Wiedervereinigung in Leipzig.

Der reinste Genuss – «Lost in Leipzig» oder Stevan Paul an der Buchmesse: lesen!

Noch grösser ist der Genuss, ihn persönlich zu treffen. Es gibt ja den Begriff Leseinsel an solchen Messen. Well, Stevan ist eine Gesprächsinsel.

Mit ihm auf einen Kaffee oder ein Bier mitten im Rummel abzutauchen, ist elend schön. Er ist, ebenso wie ich, süchtig nach Essen und Kochen und danach darüber zu reden und zu schreiben, so dass man sich sofort und ausschliesslich im Austausch über den neusten Stoff verliert.

Und was der für Fotos von mir und Suter schiesst, danke Stevan!

Ein Schelm, wer da an Gemeinsamkeiten denkt.

Essen auf der Buchmesse: Manchmal würde ich tatsächlich lieber in einen sauren Apfel beissen, aber man will ja nicht den Miesepeter spielen. So ging ich mit meinen Kollegen eine Wurst essen. Dafür ass ich sie ganz despektierlich mit Messer und Gabel, weil ich als Hypochonder auf gar keinen Fall Nahrungsmittel mit «Messehänden» in den Mund führe.

Weiter treffe ich Carlo Bernasconi. Beizer, Autor, Journalist und Persona molto grata. Sein neustes Buch ist umwerfend schlicht. Und die Illustrationen von Larissa Bertonasco einmal mehr betörend. Carlo sagt, ich sei ein Multiplikator. Ich mag sein Buch, ehrlich. Aber ich mache auch deshalb Werbung dafür, weil ich dann bei ihm kochen und eine Lesung machen darf.

Freunde von Orell Füssli aus der Schweiz führen mich Novizen durch das Abendprogramm. Zuerst geht es hierhin wo wir ganz ordentlich essen und sehr nett bedient werden. Die geben sich ganz schön Mühe, eine schöne Stimmung im Restaurant aufkommen zu lassen. Jemand sollte ihnen aber vielleicht sagen, dass Duftkerzen nicht gerade dazu beitragen.

Überhaupt, diese Leipziger. Jede Taxifahrt beinhaltet ein kostenloses Nachdiplomstudium DDR. Ich mache mir kein Bild, wie es gewesen sein muss. Es ist zu surreal, was die Taxifahrer so erzählen. Dazu die vorbeifliegenden Eindrücke aus dem Taxifenster: Strotzende Neubauten neben völlig heruntergekommenen, leerstehenden Altbauten. Die wirken mit ihren fensterlosen Fassaden wie eine Visage mit eingeschlagenen Zähnen.

Und man hat das Gefühl, die Leipziger stehen irgendwie selbst noch völlig ratlos vor ihrer eigenen Vergangenheit und einer gemeinsamen Zukunft.

Aber sie scheinen das Herz am rechten Fleck zu haben. Im Kaffeehaus Riquet lässt es sich sein. Das Frühstück ist zwar noch nicht ganz so authentisch, aber der Wille, den Kunden als König zu behandeln, ist unverkennbar da.

The place to be war die Party in der Moritzbastei. Die Location im immensen Gewölbekeller ist der Renner. Zum Glück hatte mir ein Schutzengel meines Verlags geflüstert (und ein exklusives Ticket besorgt), dass das inkludierte Buffet zwar üppig aber nicht unbedingt appetitlich sei. Was war ich Hypochonder froh um diesen klugen Rat. Sehr froh sogar. Danke, Claudia!

Zu früher Stunde begleiten wir einen Freund heim, bevor wir in unser Heim gehen. Zwei Bilder sagen mehr als tausend Worte:

Der Gang heim ins Hotelzimmer vom Radisson

Der Gang ins Heim von Aparion Apartements

Wir wanken noch etwas vor dem Radisson rum. Unschlüssig, ob wir dem vollgetankten Abend noch einen Absacker zumuten sollen, oder ob wir das dann morgen bereuen werden. Da hören wir einen Betrunkenen nahen, der unentwegt «Hitler!» vor sich hinbellt, als ob er einen lästigen Schluckauf hätte. Er baut sich vor uns auf und kläfft abermals: «Hitler!»

Ich antworte trocken: «Der wohnt hier nicht mehr». Was natürlich zu einem minutenlangen Disput führt. Aber der lohnt sich. Wir raten ihm, einen kräftigen Schluck Wasser zu trinken, damit sich sein «Schluckauf» verzieht. Er jedoch versteht «Schnittlauch». Und dieses Wort gefällt ihm anscheinend so gut, dass er zufrieden weiterzieht und fortan: «Schnittlauch!» statt «Hitler!» vor sich hin bellt.

Tags darauf Besuch bei den wie immer gut gelaunten Jungs von erlesen.tv in ihrem gelben Schulbus vor den Messehallen. Gemeinsame Pläne für einen Auftritt in Hamburg wollen geschmiedet werden. Wir warten kurz vor dem Bus und reden, während drinnen eine Lesung aufgezeichnet wird. Plötzlich reisst der Typ, der gerade liest, das Fenster auf und brüllt: «Fresse halten!»

Ich schaue verwundert auf den Mann im Leopardenkostüm und denke, ein Cosplayer? In dem hohen Alter? Nein, klärt man mich später auf, das ist doch Claude-Oliver Rudolph. Aha, das erklärt natürlich auch, weshalb er nicht in diesem Film mitgespielt hat.

Herrn Gri haben wir übrigens auch entdeckt an der Messe. Auch er hat sich den Myriaden von Cosplayern angeschlossen.

Das Abendessen im Weinstock kann sich sehen lassen. Ebenso die Riemann, die aber, so scheint es, nicht zum Essen gekommen ist, sondern zum Rauchen. Dauernd pilgert sie mit ihrer Entourage hinaus und wieder hinein. Erkannt hat sie glaub ich jeder, aber hingesehen hat keiner.

In der Mephisto Bar machen wir uns dann eine letzte Vorstellung davon, wie Menschen aussehen, die irgendwomit Erfolg haben oder hatten und gleichzeitig irgendwie gestrandet sind.

In Leipzig vereint sich das alles auf Schritt und Tritt.


23 Kommentare zu Wiedervereinigung in Leipzig.

  1. Herr Paulsen am 23. März 2010 at 10:51:

    Danke für die schöne Nachlese, ich mag das ja sehr, man ist dann noch ein bißchen da obwohl man schon dort ist. Die zwei Hotelzimmerflure sind umwerfend gut gesehen, Rahmen drum und: Kunst!

    Chapeau!

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  2. Filuzi am 23. März 2010 at 10:59:

    Ja, die Moritzbastei- ich finde die Party ist innerhalb der letzten 15 Jahre nicht besser geworden, aber es ist immer wieder spannend, wie man in den langen unterirdischen Gängen Leute trifft und redet… und trinkt… und quatscht.
    Plötzlich ist mir klar geworden, wer dein Verlagschutzengel ist- da bist du gut aufgehoben 🙂

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  3. nata am 23. März 2010 at 11:16:

    Selten sowas Komisches über Leipzig gelesen. Habe mich großartig amüsiert. Mit Spannung warte ich nun darauf, was wohl passiert, nachdem Hitler durch Schnittlauch ersetzt wurde.

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  4. Marqueee am 23. März 2010 at 11:25:

    Das Bild mit dem Kollegen Suter hat der Herr Paulsen wirklich sehr schön hinbekommen, finde ich. Auf mich wirkt ihr wie Brüder – und nicht nur solche im Geiste. Und ich stelle mir sofort die Frage, welche Geschichte sich wohl hinter einem solch gleich-ungleichem Brüderpaar verbergen könnte.

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  5. patrick am 23. März 2010 at 12:39:

    dem ist einfach nichts mehr hinzuzufügen.
    das ganze wochenende läuft wie im film nochmal ab.
    bin wie stevan der meinung: die hotelgänge sind definitiv kunst!
    hammer!

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  6. Magdi am 23. März 2010 at 16:08:

    Leipzig ist für mich einfach eine bisschen weit weg. Aber vielleicht brauchst du einmal eine Begleitperson? Da kannst du dich einfach bei mir melden.

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  7. Leipzig - Blog - 23 Mar 2010 am 23. März 2010 at 20:37:

    […] Anonyme Köche » Blog Archive » Wiedervereinigung in Leipzig. […]

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  8. susanne am 23. März 2010 at 22:35:

    ehre, ehre, von C. O. rudolph angeschrien zu werden, das würd ich mir auch wünschen, so für den rest meiner tage…

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  9. Schnick Schnack Schnuck am 24. März 2010 at 09:55:

    Was macht die Frau da vor dem Denkmal? Sieht aus wie Fräuleinchen Piss.

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  10. Claudio am 24. März 2010 at 11:43:

    Danke, Stevan, ich sehe schon einen Fotoband, den könnte ich dann 2011 in Leipzig präsentieren! Oh, Filuzi, du scheinst ja ein richtig erfahrener Leipzig-Fuchs zu sein. Schade, haben wir uns nicht getroffen. Die Welt hat definitiv mehr von Schnittlauch, nata. Eine, die noch geschrieben werden will, Marqueee. Ich liebe einfach diesen Gri mit seiner Aura, Patrick! Da komm ich dich lieber mal in deiner schönen Region besuchen, Magdi. Jetzt wo dus erwähnst, susanne, aber dann hätte ich mich auch ganz gerne von der Riemann anfauchen lassen wollen. Das sieht man doch, Schnick Schnack Schnuck: Sie setzt sich in Pose, damit ich sie von hinten fotografieren kann.

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  11. Token am 24. März 2010 at 15:33:

    Das ist interessant, dass ich auch noch in anderen Foodblogs über Leipzig lese. War ja auch am Wochenende in Leipzig, allerdings eher auf der Seite der heutigen Jugend, aber immerhat hatte ich auch überall mein „kulinarisches Japanisches“ Auge dabei 🙂

    Zurück zublicken ist schön.

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  12. Mario am 25. März 2010 at 12:47:

    Erkunde doch mal Amerika 😉

    http://www.ted.com/talks/view/id/765

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  13. Claudio am 25. März 2010 at 23:05:

    Mein japanisches Auge muss unbedingt noch geschult werden, Token. Danke für den Link, Mario! Man kann von Jamie halten, was man will. Hinstehen und auf Menschen wirken kann er.

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  14. susanne am 25. März 2010 at 23:40:

    grundsätzlich finde ich, dass jamie für die gute sache steht, aber muss er das kokain gleich schubkarrenweise auf die bühne werfen, wenn das jeder machen würde, wo kämen wir da hin????

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  15. Claudio am 26. März 2010 at 09:32:

    Du meinst, deshalb ist seine Performance so euphorisch? Und ich dachte schon, das kommt von den gesunden Vitaminen, die er nascht.

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  16. susanne am 26. März 2010 at 10:40:

    genau das mein ich, so hibbelig biste nicht von ein paar bananen und äpfeln…ich bin ja schon vom zuschauen ganz kirre geworden!

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  17. Robert am 4. April 2010 at 20:36:

    Hallo,

    echt ein geiler Blog. Da ich selbst auch gerne koche und dein Blog ideal für ein Interview mit http://blogger-antworten.com wäre, würde ich dich sehr gerne interviewen. Hoffe du mailst mir, falls du Interesse hast. Vielen Dank. 🙂

    Mfg Robert

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  18. Sobajunkie am 30. April 2010 at 16:34:

    Da warst du in Leipzig und ich krieg das erst viel zu spät mit. Naja, Prüfungsstress.
    Ach, das Riquet. Ich selbst bin (außer von der äußeren Fassade natürlich) dort bisher nur enttäuscht gewesen. Bedienung, Sanitäranlagen und letztlich leider auch Geschmack haben bei mir nur einen negativen Eindruck hinterlassen. 🙁
    Anscheinend hast du den Auerbachskeller nicht besucht, was ich auch nicht schade finde, so ist das inzwischen nur noch überteuert und für Touris only. Der Thüringer Hof hat immer viele einheimische ältere Gäste – das zeugt ja schon von guter Küche.

    Aber zu was anderem: wieso meinst du, die eipziger stünden ratlos und noch viel interessanter, einer „gemeinsamen Zukunft“, ich nehme an, du spielst auf die Gesamtdeutsche Zukunft an?

    Das mit den Gebäuden fällt vielen Nicht-Ossis auf, ich vergesse das bzw. sehe es gar nicht als Besonderes. Für mich sieht es halt so aus, wenn Leerstand herrscht und keiner sich um die Gebäude kümmern mag und kann. Das ist hier Normalzustand, in einigen Vierteln schlimmer.

    Was du anscheinend nicht berichtenswert fandest, aber dafür warst du ja nicht Leipzig besuchen, sondern die Messe, ist der Baustellenwahn, der hier herrscht. Grauenvoll und es geht und geht nicht zu Ende.

    Liebe Grüße aus Leipzig. Und gut koch‘.

    PS: dein Interview von vor einigen Monaten bei einem schweizer Radiosender ist mir immer noch im Gedächtnis. „Chochbuch“. Herrlich! Danke für das Horizonerweitern, die Schweiz ist hier weit weg. 🙂

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  19. Claudio am 2. Mai 2010 at 23:58:

    Gruss zurück und vielleicht bis nächstes Jahr. Betreffend der Ratlosigkeit: Eine Taxifahrerin hat gemeint, vor der Wende, da gabs „wenigstens“ noch ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Das sei heute weg, und das mache sie ratlos. Ich denke, es geht da um die Findung einer kollektiven Identität – woher kommen wir und wohin gehen wir?

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  20. BECK am 9. Mai 2010 at 12:36:

    Servus Claudio, beim nächsten Mal in Leipzig gehst Du ins Grundmann und ich zeige Dir gerne noch ein paar andere schöne Ecken der Stadt… Ciao.

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  21. Claudio am 10. Mai 2010 at 00:08:

    Sieht gut aus! Ich lass dich dann wissen, machs gut inzwischen.

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  22. markus am 16. Dezember 2010 at 23:42:

    herzliche grüße aus eben dieser stadt, die ich als 19 jähriger student mit hang zur phobie gegen all jene orte, an denen meine mitstudenten speisen, nun seit 3 monaten bewohne. der bericht trifft die ersten eindrücke die ich von hier hatte direkt ins schwarze – es dauerte einige tage, bis ich mich hier eingewöhnt habe. die menschen sind direkt, ein bisschen verloren und vorallem: sächsich (und das sage ich als gebürtiger chemnitzer, „nor“!). ich möchte behaupten, das es ein ganz paar kleine gassen gibt, die trotz den sozialistischen musterbauten noch an die zeit erinnern, in der man leipzig das klein-paris nannte. und wo man auch so essen kann. in den verwinkelten enden von plagwitz und den nordwestteil der stadt ist es ganz wunderbar. auch ohne ein persönliches kennen – wenn du hier herumschwirren solltest und lust hast – ich würde mich sehr freuen.

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  23. Claudio am 17. Dezember 2010 at 10:01:

    Zur nächsten Buchmesse vielleicht. Schöne Festtage!

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