Markbeine

Der Bauch ist riesig. Ein kolossaler Boiler von unfassbarem Fassungsvermögen. So prall und rund und schwer, der König könnte unmöglich aufrecht stehen. Sein fetter Wanst würde ihn vornüber zu Boden reissen.

Er sitzt auf seinem Hosenboden und lehnt mit gespreizten Beinen an einen Baum. Nicht unglücklich. Mit roten Bäcklein. Eine grosse, karierte Serviette um den Hals geknotet. Sein Maul erwartungsvoll aufgerissen und zugänglich. Lange Holzleitern sind links und rechts an seine Arme gestellt.

Eine Kolonne aus Metzgergesellen und Küchenjungen klettert am Riesen hoch. Hinauf zu seinem Schlund. Sie schultern Schweinehälften, Schinken am Knochen und allerlei Braten. Sie füttern und mästen ihn mit den allerbesten Speisen. Den Schlaraffenkönig.

Rund um ihn herum wuseln Mägde und Knechte, Köche und Bäcker, Winzer und Brauer. Sie schneiden und schöpfen, braten und schmoren, kneten und backen und füllen auf Platten und Töpfe und giessen in Karaffen und Krüge, was das Land an lukullischen Genüssen hergibt.

Dieses fröhliche Wandbild empfängt einem im Restaurant «Le Nouvel Abattoir» in Kronenbourg, dem Stadtviertel Strassburgs, wo auch die gleichnamige und grösste Bierbrauerei Frankreichs steht.

Es liegt, wie der Name vermuten lässt, direkt neben dem Schlachthaus. Und es bietet, so viel ist sicher, ungehemmt Fleisch. Schlachtvieh de barbe à queue, also vom Kopf bis zum Schwanz, von innen bis aussen. Klassische Gerichte auf rot-weiss karierten Tischdecken. Vom Presskopf bis zu knusprigen Schweineohren.

Das Tartar wird selbstverständlich am Tisch zubereitet. In einer Menge, die in einem Sternelokal für 12 Portionen reichen würde. Dort allerdings vom Fisch. Wer isst heute noch Rindstartar? Hier ist es eine Vorspeise für eine Person.

Nach Salat oder Gemüse fragt man besser nicht. Häme ist noch das Harmloseste, das man sich damit einhandeln würde. Obwohl, eine «Salade mixte» gibt es: Kutteln gemischt mit Ochsenmaulsalat.

Besser man bestellt eine andere beliebte Vorspeise: Os à moelle – zwei der länge nach aufgesägte Markbeine. Serviert mit nichts als einem Töpfchen grobem Meersalz und einem Körbchen knusprig-frischem Baguette.

Das Bild, das die Gäste abgeben, ist ähnlich grotesk, wie das Wandbild im Eingang. Es sind mehrheitlich Männer über fünfzig. Ihre speckigen, mit feinen Äderchen durchzogenen Gesichter leuchten in einem so intensiven Magenta, man hat Angst, die Köpfe könnten im nächsten Augenblick platzen.

Und man muss regelrecht mit sich kämpfen und sich zurückhalten, um nicht hinzueilen und ihnen den Hemdkragen aufzuknöpfen oder wenigstens die verdammte Krawatte zu lockern.

Dazu bechern sie natürlich munter Rotwein, als gäbe es kein Morgen. Und das am Mittag. An einem ganz gewöhnlichen Werktag. Danach gehen sie vermutlich zurück in ihr Büro und schlafen dort gemütlich weiter.

Der Patron ist ein Raubein wie er im Buche steht. Keiner dieser Feelgood-Gastronomen, die sich mit einem lockeren Spruch kaufen lassen. Er ist der Chef im Stall. Und man muss sich gut überlegen, was man sagt, wenn man seine Bestellung abgibt. Obwohl er nichts anderes als blutig serviertes Fleisch toleriert  – und das geht immerhin von bleu bis saignant – fragt er nach der gewünschten Cuisson.

Wer die Dummheit begeht, sich weiter vorzuwagen und ein à point (in etwa ein medium rare) bestellt, dem entreisst er die Speisekarte, knallt sie demonstrativ zu und stolziert zum Buffet, wie ein Stierkämpfer aus der Arena. Dazu ruft er zur Erheiterung des Publikums durch den Saal: «Einen Eimer voll Klee für Monsieur am Tisch sechs, wenn es beliebt!»

Leider ist das jedoch alles passé und nur noch eindrückliche Erinnerung. Das Nouvel Abattoir ist Geschichte. Es wurde selbst abattu – niedergerissen. Auch der Schlachthof steht nicht mehr. Dafür ein riesiger IKEA. Was wiederum auch eine Art Schlachthaus ist.

Immerhin konnte ich in Erfahrung bringen, dass der Sohn des damaligen Besitzers ein neues Restaurant gefunden hat und dieses im Sinne des ehemaligen Abattoir weiterführt. Ausprobiert habe ich es jedoch noch nicht. Ein Blick auf die Karte lässt aber Gutes erahnen.

Nach dem Abflachen der BSE-Hysterie und entsprechend abstinenten Jahren überkam mich jedoch eine so starke Nostalgie, dass ich mir tatsächlich wieder zwei Markbeine unter die Grillschlange gelegt habe. Zehn bis fünfzehn Minuten, bis es anfängt zu knistern und zu blubbern.

Und mit nichts serviert, als einem Töpfchen grobem Meersalz und einem Körbchen knusprig-frischem Baguette.

Markbein auf Baguette


27 Kommentare zu Weicher Kern fuer den harten Kern

  1. Mestolo am 24. Juni 2009 at 08:04:

    Gruselige Vorstellung für mich, sowas zu essen. 🙂

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  2. anette am 24. Juni 2009 at 08:22:

    claudio! dein text…ein leckerbissen…
    das mark mag ich nur im risotto alla milanese…
    während ich mich noch gut an meinen grossvater erinnern kann ,der markknochen genussvoll ausgelöffelt hat…

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  3. Mike Seeger am 24. Juni 2009 at 08:32:

    Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen – morgens um halb neun. Und da soll es Leute geben, die essen Erdbeerrisotto … 😉

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  4. katha am 24. Juni 2009 at 09:08:

    statt baguette ordentliches brot und ich bin sofort dabei. und rindstartar esse ich auch noch. seit meiner kindheit und immer noch gerne.

    ich wollte den link zu deinem posting schon fast versenden, an einen, der sich’s ganz furchtbar auf solche bana steht und für ein diesbezügliches lokal vermutlich auch nach strassburg reisen würde, aber zum glück habe ich noch davor gelesen, dass es das restaurant nicht mehr gibt.

    wenn du dann mal in wien bist: hier werden markknochen nach wie vor zum gekochten rindfleisch serviert. die schwimmen in der suppe, man bekommt geröstetes brot und salz serviert und streicht das mark auf die brotscheiben. jetzt hab‘ ich an gusta bekommen.

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  5. Ellja am 24. Juni 2009 at 09:18:

    Endlich! Ein Lob auf das Knochenmark! Beinah mein gesamter Freundeskreis hält mich für verrückt. Aber als Kind hat´s meine Oma vorgemacht und ich fands gut bis heute… Markknochen ganz frisch aus der dampfenden Suppe gefischt, auf ein saftiges Schwarzbrot gestrichen, mit Salz und etwas Pfeffer bestreut und….mhhhhhhhhh…. ich verstehe dieses angeekelte Getue überhaupt nicht, vor allem nicht von jenen, die es noch nie probiert haben.

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  6. adrian am 24. Juni 2009 at 09:23:

    mark ja, aber in begrenzten mengen! zum beispiel als kleines vorspiel bei einem schweins-/kalbshaxen 🙂

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  7. anette am 24. Juni 2009 at 09:52:

    pur ists eben eher etwas für markige männer…..

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  8. Schnick Schnack Schnuck am 24. Juni 2009 at 10:43:

    Wahnsinn, das kannte ich bisher gar nicht, bin aber durchaus erpicht darauf, so einen Knochen auszulöffeln.

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  9. Bolli am 24. Juni 2009 at 11:56:

    dieses BSE war eine typisch deutsche Hysterie-Attacke, hier in F. haben alle weiterhin côte de boeuf und tartare gegessen……

    Ich mache immer Markknochen mit pot au feu, dann ist es die Vorspeise, ist mir jetzt aber zu warm…..

    Und, die Franzosen trinken weiterhin mittags Rotwein, und arbeiten dann, entweder sind das alle Alkis oder ich weiss’s auch nicht, ich habe es in 16 Jahren noch nie gelernt, mittags Wein zu triken ohne gleich zu lallen….

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  10. qrissy am 24. Juni 2009 at 12:11:

    Hallo Claudio,

    Gerade auf der Suche nach einem Rezept habe ich diese (deine?) Seite entdeckt. WOW! absolut super in Aufmachung und Text und ich kann einfach nicht aufhören weiterzu“blättern“. Dies wird ganz bestimmt eine meine Lieblings Sites.
    Uebrigens liebe ich Markbein. Kochte die Knochen immer mit wenn ich Siedfleisch mache und auf ein Stückchen dunkles Brot war es für mich immer schon eine Delikatesse. Die Variation auf dem Grill werde ich nun bestimmt demnächst ausprobieren.
    Grüsse aus der Schweiz :-))

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  11. Kirsten am 24. Juni 2009 at 12:48:

    Boooh, mich schaudert’s bei dem Gedanken, dies essen zu müssen… Da geb ich trocken Brot ganz klar den Vorzug. Ich kannte das gar nicht, aber ich werde das auch nie kennenlernen…. sorry, Claudio, nimm’s mir bitte nicht übel… 😉

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  12. Petra am 24. Juni 2009 at 15:01:

    Ich schließe mich Ellja an: die Markknochen fische ich aus der Tafelspitzbrühe und genieße das Mark auf Schwarzbrot mit Salz und Pfeffer – die beste Vorspeise, die man sich denken kann 🙂

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  13. kaltmamsell am 24. Juni 2009 at 16:50:

    Oh ja! Vielleicht hängt das ja alles von der Kindheit ab. Auch am Tisch der Familie Kaltmamsell gab es ein großes Ausschlürfen von Markknochen aus der Suppe, den ganz Kleinen pulen bis heute die Erwachsenen aus Lammkoteletts das Mark und füttern es zu.
    Ich werde mich umgehend nach Markbeinen erkundigen, um meinen Vater damit zu überraschen.

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  14. Claudio am 24. Juni 2009 at 18:36:

    Soweit die Vorspeise. Ich muss gestehen, Markbeine aus einer Fleischbrühe oder das Mark einer Kalbshaxe aus einem Ossobuco sind geschmacklich noch etwas delikater, weil sie im Fond, respektive der Sauce, aromatisiert werden. Aber die gegrillte Version gibt natürlich optisch mehr her 😉 Morgen werde ich für den harten Kern noch ein passendes Hauptgericht dazu posten. Allerdings geht es wieder Richtung Italien – und für die Vegetarier oder Zartbesaiteten die hier mitlesen nochmals durchs Fegefeuer. Aber Schonzeit gab es ja in den letzten Postings zur Genüge. Geniesst es trotzdem!

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  15. inspirado am 24. Juni 2009 at 22:24:

    Lieber Claudio,

    ganz köstlich. Optisch übrigens noch schöner, wenn man die a. 10-12 cam langen Markknochen (möglichst aus der Mitte) hinstellt und auslöffelt bzw. von seinen Gästen auslöffeln lässt. 80 Prozent derer, die das bei mir bekommen haben, fanden es himmlisch (oder taten zumindest so). Die anderen 20 Prozent haben beinahe gekotzt und ihre Portion zur Freude aller Anwesenden rechtzeitig an die Mitessenden verteilt. Danach, natürlich, Rindstatar – besser gesagt die piemontesische Variante Carne Cruda. Ist das zu toppen? Vielleicht ja: Welches Fleisch nehmt ihr dafür? Filet? Kalb?

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  16. Boris Zatko am 25. Juni 2009 at 08:59:

    So, und jetzt weiß ich endlich, wo wir mal zusammen Essen gehen.

    Danke für die Erleuchtung!

    Viele liebe Grüße

    Boris

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  17. philbee am 25. Juni 2009 at 09:49:

    Liebhaber von Markbein in Zürich kennen hoffentlich das Tiziani an der Hönggstrasse in Wipkingen.
    Wunderbar!

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  18. Claudio am 25. Juni 2009 at 10:59:

    Bei mir waren die 20% meine eigenen Kinder, inspirado, und zwar ohne auszulöffeln, alleine vom Anblick schon! Bei Tartar oder Carne Cruda bin ich leider ratlos. Das habe ich noch nie selbst zubereitet, sorry. Ich möchte es gerne testen, Boris. Danach gehen wir ins Grenadier für eine Tarte à la rhubarbe meringuée! Nein, kenne ich nicht, philbee, danke für den Tipp. Und Gruss an Armin Meienberg, falls das geht. Ich habe mich jetzt gerade eine Stunde durch seine intelligenten Texte (auf eurer Website?) gelesen – herrlich!

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  19. ramses101 am 25. Juni 2009 at 12:29:

    Großartiger Text. Ich mag es, wenn das Herzblut trieft.

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  20. Hande am 25. Juni 2009 at 12:31:

    Claudio, ich wurde auch statt Muttermilch mit Knochenmark (im Suppe, vom Lammkotelett, etc…) erzogen und liebe es bis heute. Leider ist es so schwierig geworden sowas zu finden….

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  21. Mario am 25. Juni 2009 at 12:35:

    Die Geschichte ist ohne Bild trotzdem wie ein Buch.

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  22. Mario am 25. Juni 2009 at 12:40:

    Auszug aus der neuen Karte:
    Vorspeise wohlgemekert:
    Le petit « Cannibale »

    Das ist ja fast schon Food Porn.
    http://en.wikipedia.org/wiki/Food_porn

    *lacht*

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  23. Zoolicious am 25. Juni 2009 at 22:03:

    Oh, Knochenmark.
    Wunderbar.
    Nachdem man es kaum mehr kriegt, hatte ich davon auch letztes Frühjahr bei Fergus Henderson in London was. (Ja, ich wurde extra darauf hingewiesen)
    Muss ich wohl doch mal den Metzger meines Vertrauens anhauen. 😉

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  24. Hannah am 24. Juli 2009 at 12:19:

    Markknochen auslöffeln ist wie bei guten Gambas den Kopf ausaugen. Beides aromatisch und geil.

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  25. Claudio am 25. Juli 2009 at 00:09:

    My words! Zu Gambas und Kopf hab ich was, catch this if you can: https://www.anonymekoeche.net/?p=74

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  26. Steffi am 21. Oktober 2009 at 15:41:

    Kann ich mir gut vorstellen. Wahrscheinlich ist das Mark häufiger in italienischen Gerichten untergemischt, als man denkt. Ich wußte auch nicht, dass es im Risotto Milanese drin steckt, und der schmeckt mir immer köstlich. Ich werde das mal ausprobieren, nicht gleich mit Gästen, aber zunächst mal im kleinen Kreis mit meinem Mann, eh ich mich traue, es anderen anzubieten. Da ich aber die italienische Küche liebe, wird es mir schon schmecken. Grazie mille. Ciao. Steffi

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  27. Anonyme Köche » Blog Archive » Reif für die Fleisch-Insel am 26. Oktober 2012 at 18:29:

    […] Bilder zurückhalte. Ich meine diese heuchlerischen Susies, die schon beim Anblick von Tatar oder Markbein hysterisch kreischen. Die aber zu blöd oder zu blind sind zu fragen, woher ihr eingeschweisstes […]

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