Stunden der Wahrheit

Änisbrötli – was für ein Mythos.

Anstatt hier opulente Weihnachts- oder Sylvestermenüs zu rezitieren (raffinierter, luxuriöser, kreativer), fokussieren wir uns auf den Mikrokosmos moderater Backwaren: Änisbrötli. Auch die gehören in diese gebäckfrohe Jahreszeit.

Sie werden im Ofen gebacken, aber sie dürfen keine Farbe annehmen. Sie müssen hart sein, aber auch mürbe. Sie müssen deutlich nach Anis schmecken, aber nicht zu aufdringlich. Sie sollen frisch sein, obwohl man sie zuerst mehrere Tage nicht anfassen darf. Aber das Wichtigste: Sie müssen Füsschen haben!

Füsschenlose Änisbrötli sind Krüppel. Expertinnen zeigen ihnen unerbittlich die kalte Schulter. Und wäre der Teig noch so perfekt und das Aroma noch so delikat, ohne Füsschen stehen sie auf verlorenem Posten.

Da gibt es nichts zu diskutieren und Schönfärberei wird im Keim erstickt. Solch seelenloses Backwerk wird einfach ignoriert.

Natürlich stacheln mich solche mythischen Rezepte an, vor allem, wenn mir mein Weg statt mit Zuspruch mit Desillusionierung ausgepflastert wird: «Die konnte nur unsere Grossmutter.», «Mach dir keine Mühe, die schaffst du eh nicht.», «Die sind ganz, ganz schwierig!».

Wen juckte es da nicht, die familiäre Backbastion zu entern, auch wenn man riskiert, sich der Piraterie schuldig zu machen oder im sehr hoch wahrscheinlichen Falle des Scheiterns, der Lächerlichkeit preiszugeben.

Ich hatte dieses alte Basler Rezept als Basis. Am besten daran gefällt mir das Hintertürchen der Schuldzuweisung, durch das man schlüpfen kann, wenn einem die Füsschen missglücken: «Kriegen sie keine Füsschen, so schimpfe die Buben aus oder die Stubenmagd: War schlecht gerührt oder Durchzug in der Stube.»

Wer überhaupt auf den Spleen kam, dass diese unschuldig duftenden – aber schon manch abgebrochenen Zahn kostende – Plätzchen hochhackig daherkommen müssen, ist schleierhaft.

Vermutlich liess ein nachlässiger Backgeselle den Teig zu lange liegen, und um seine Tölpelei zu kaschieren, rief er am nächsten Morgen: «Ta-daa! Meister, ich habs erfunden: Das Guetzli mit Füessli!»

Für die typischen Verzierungen, wurden schon Millionen von Modeln geschnitzt. Für meine Zwecke fand ich den Jolly Roger, das Piratensymbol, ganz passend.

Man findet in der Tat viele Rezepte, und als kompliziert kann man sie nicht bezeichnen. Aber egal, ob sie sauber gedruckt oder in krakeliger Omaschrift auf einem fleckigen Stück Papier im Familienkochbuch eingebettet sind. Eines ist allen gewiss – das Wichtigste steht gar nicht drin: die Erfahrung die es braucht. Und die haben eben nur Omas und geübte Bäckerinnen.

Bange 24 Stunden musste ich harren, bevor ich mich traute, die Türe zur kühlen Mansarde zu öffnen, wo ich meine Änisbrötli auf einem ausgebutterten Blech hatte ruhen lassen.

Erleichterung! Es hatten sich Füsschen gebildet – und was für schöne. Jetzt nur noch vorsichtig bei offener Ofentüre backen und die Heldentat wäre vollbracht.

Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuss: «Nein. Das sind keine Füsschen.», beschied mir jedes weibliche Wesen, welchem ich meine Änisbrötli zur amtlichen Abnahme vorlegte. Punkt und aus.

Jegliches «ja, aber», jeglicher Rekurs wurde nüchtern zurückgewiesen. Eiserner, als jede eiserne Lady der Welt je entschieden hat.

Es hilft nichts. Ich muss nochmal ran. Ich werde dann (und das halte ich für eine wirklich clevere Idee) das Kirschwasser durch Ricard ersetzen. Aber wen kümmert Geschmack, wenn er auf Plateausohlen, statt auf eleganten Füsschen daherkommt.

Treue Leserinnen und Leser. Danke für die Aufmerksamkeit und die anregenden Kommentare. Möge Euch 2011 nur Gutes und Genussreiches widerfahren! Entert die Küchen, feiert und reisst das Leben an euch.

Wir lesen uns
Euer Claudio


23 Kommentare zu Stunden der Wahrheit

  1. Roland am 31. Dezember 2010 at 18:51:

    Deine Brötchen hatten schon Füsschen vor dem Backen? Bist Du sicher, dass Du keine Ameisen in Deiner Mansarde hast? 😉

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  2. András am 31. Dezember 2010 at 20:56:

    Also, wir bei Orell Füssli finden auch, dass es Füssli braucht! Ansonsten gehört dieses Gebäck in die Kategorie der „überflflüssigen“, genau wie das andere harte Zeugs aus Basel. Ansonsten: happy new year.

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  3. lamiacucina am 1. Januar 2011 at 13:20:

    Lass Dich nicht entmutigen. Jedes Jahr der gleich K(r)ampf um die Füssli. Eindrucksvoll sind sie bei den Änisbrötli der Basler Mig.ros. Ausgerechnet !
    Ein gutes neues Jahr !

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  4. Claudio am 1. Januar 2011 at 22:33:

    Wie gesagt, Roland, als Füsschen darf man die gar nicht bezeichnen, Untermieter hin oder her. Etwas Biss gehört halt zum Basler Daig, András, dir auch ein krachend gutes Jahr! Danke, Robert, vielleicht verhelfen dem Grossverteiler M-ysteriöse Hilfszutaten zu grossen Absätzen. Happy 2011 und die besten Grüsse an Frau L.!!!

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  5. anette am 2. Januar 2011 at 08:09:

    wer bekommt schon auf einem gebutterten blech fiasla ? unsere springerle (weiter östlich herstammend ) lernen das hochhackige gehen auf zart bemehltem untergrund….
    aber den zirkus drumrum den brauchen sie anscheinend….
    wünsche vorsichtig und trotzdem elegantschwungvoll ins grosse neue gerutscht zu sein….

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  6. anette am 2. Januar 2011 at 08:13:

    nachtrag…
    http://www.springerle.com/rezepte_springerle.html

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  7. Claudio am 2. Januar 2011 at 09:04:

    Danke für den Hinweis, Anette, ausbuttern statt ausmehlen überwiegte bei den eingeholten Ratschlägen, von Backpapier wurde hingegen kategorisch abgeraten. E guets Neus!

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  8. Sheik am 2. Januar 2011 at 20:04:

    proscht neijohr die äschemänner 😉

    füesli hin oder her, wer braucht die noch bei so einem tollen backmotiv. bei do einem model würde ich auch backen

    ich freue mich auch 2011 auf anregende rezepte und plaudereien rund um essen

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  9. Andreas am 4. Januar 2011 at 23:03:

    Da ich inzwischen ein Hamburger Junge bin, wäre diese Delikatesse sicherlich auch etwas für den St.Pauli Fanshop, denn der Totenkopf ist das omnipräsente Symbol des hiessigen Fußballvereins.

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  10. Barbara am 6. Januar 2011 at 17:21:

    Japp, bemehlen, nicht ausbuttern oder Backpapier. Hab‘ ich mir gemerkt, meine Oma hatte das mal erzählt. Im schwäbischen gibt’s die Springerle auch. Allerdings nicht mit solch einem coolen Motiv – wow! 🙂

    Viele Grüße und ein gutes Neues Jahr!

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  11. Anna am 6. Januar 2011 at 18:55:

    Saucool, die Piraten! Das letzte Mal, als ich Anisbrötli probiert habe, habe ich den Bissen allerdings gleich wieder ausgespuckt, glaube ich. Wer kam denn bitte auf die Idee, dass das essbar sein soll?!…Insofern würden Deine Schönheiten bei mir ewig halten :-). Anis mag ich ohnehin lieber in flüssiger Form – für mich den Ricard bitte direkt ins Glas.

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  12. schlachtplatte am 6. Januar 2011 at 23:24:

    Füsschen hin oder her, viel spannender ist doch: wo gibt es den tollen Jolly Roger zu kaufen????

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  13. uwe@highfoodality am 8. Januar 2011 at 08:46:

    schönes rezept. und die piraten darauf sehen natürlich auch schön aus. so richtig weihnachtlich. *g*

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  14. Claudio am 8. Januar 2011 at 21:36:

    Die Black Jack-, respektive Jolly Roger-Prägeform hat mein Sohn – ein direkter Abkömmling von Captain Jack Sparrow –, mal geschenkt bekommen, um damit seine Toastbrotscheiben „essbarer“ zu machen. Ich würde also am ehesten im gut sortierten Hauswarengeschäft bei den „lustigen“ Artikeln danach suchen.

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  15. Filuzi am 11. Januar 2011 at 15:03:

    Tut mir leid, da gibt es zumindest im Saarland noch eine Differenzierung: das, was du da gebacken hast (mit der Model), sind Springerle. Anisplätzchen sind rund und müssen Füßchen haben. Zart und mürb müssen sie auch sein, aber in meiner Familie gibt es die Legende, dass ich mir im Alter von 2 an einem Blech davon die Pfötchen verbrannt habe und sie daher nicht mochte- daher kann ich keine Spezialangaben hinzusteuern.

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  16. ludwigzeidler am 12. Januar 2011 at 06:50:

    ..ob mit oder ohne füssli..füseli..füschen..hauptsache schmecken müssen sie// dein blog wie ich finde einer der besten in der sparte genussreize+oralpflege// für deine mühe + einsatz wünsche ich das beste+feinste an entdeckungen+freuden
    lg.ludwig

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  17. Kirsten am 13. Januar 2011 at 19:19:

    Füßchen hin oder Füßchen her… Hauptsache sie schmecken! 🙂
    Auch Dir ein gesundes und erfolgreiches Neues Jahr – mögest Du uns noch mit vielen Artikeln beglücken.

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  18. Bloomsbury am 7. Februar 2011 at 00:10:

    Die Plätzchen sehen toll aus!

    Darf ich das Foto für einen Pirateneintrag auf meinem Blog verwenden?

    Liebe Grüße, Bloomsbury

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  19. Claudio am 7. Februar 2011 at 22:36:

    Aye! Bloomsbury, du darfst. Ehrensache, dass du dazuschreibst, wo du das Bild erbeutet hast, nicht wahr?

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  20. Aye! | Bissgurke am 7. Februar 2011 at 23:03:

    […] Picture kindly released by Claudio von den Anonymen Köchen. […]

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  21. Jasmine am 18. Februar 2011 at 21:44:

    Hallo Claudio

    Ich bin zwar reichlich spät, aber zu diesem Thema muss ich noch was loswerden. Als erstens: das beste Änisbrötli kriegt man nur mit Anisöl hin, so werden sie wunderbar fein, das wusste meine Oma. Und zweitens: man muss den Teig richtig schön hoch ausstechen, ja nicht zu flach. Und so müsste es mit den Füssli klappen.
    🙂
    Schöne Grüsse, Jasmine (CLS.. weisst noch?)

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  22. Claudio am 20. Februar 2011 at 18:35:

    Jöö, Jasmine, klar weiss ich noch. Merci fürs Bsüechli und den Tipp, meld dich doch mal, wenn du in BS bist. Liebe Grüsse!

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  23. Klaus am 29. Mai 2013 at 05:00:

    Was, um Himmels Willen sind diese Füssli?
    Ist es vielleicht der Boden des Gebäcks? Aaaarghz!

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