Niko Romito: Die absolute Essenz.
Casadonna mit dem Ristorante Reale in Castel di Sangro ©Francesco-Scipioni
Der Ort ist archaisch. Die Gegend dünn besiedelt. Mit Dörfern, die wie Schwalbennester an den Felsen kleben. Mitten im idyllischen Nationalpark von Abruzzo. Wo das Klima rau sein kann und das Leben nicht immer Sonnenschein. Und gerade deshalb so echt und so ungeschönt schön wirkt.
An diesem Ort, fernab von allem, was an Spitzengastronomie erinnern könnte, betreibt Niko Romito in einem Kloster – wie passend – eine geradlinige, schnörkellose Küche mit besten Zutaten aus der Region. Allerdings auf allerhöchstem Niveau.
Niko-Romito ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS
«Meine Gerichte werden oft als einfach bezeichnet. Das ist sehr richtig im Sinne von nicht kompliziert, bedeutet aber nicht, dass sie ohne Aufwand zubereitet sind. Beim Kochen kann Aufwand von Vorteil sein, Kompliziertheit hingegen nie. Genau diese spezielle Art der Einfachheit kann man nur durch unermüdliche Recherche erreichen – und durch Leidenschaft für die Balance.»
In sieben Jahren wurde das Restaurant mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Dieses Jahr rangiert sein «Ristorante Reale» zum ersten Mal unter den «World’s Best Restaurants».
Ich habe ihn an der Chef-Alps getroffen und mit ihm gesprochen.
Der Journalist Joe McGinnis schrieb «Das Wunder von Castel di Sangro». Ein Bestseller über einen regional unbedeutenden Fussballclub, der aus dem Nichts den mirakulösen Aufstieg in die prestigeträchtige Serie B schaffte. Das Märchen dauerte allerdings nicht lange. Du hingegen hast in Castel di Sangro wahrlich Geschichte geschrieben. Kannst du es eigentlich selber fassen?
Ich verstehe mich als den, der ich bin. Sehe, was ich die letzten Jahre erreicht habe und es überrascht mich nicht. Aber ich bemerke sehr wohl die Verblüffung der anderen.
Man fragt sich, war es ein Traum, Kalkül oder reiner Zufall? Wie schafft man ausgerechnet an einem Ort fernab jeglicher Spitzengastronomie den Aufstieg zu einem der höchst bewerteten Küchenchefs Italiens?
Ich hatte keine Ahnung. Mir war die Welt der Spitzengastronomie völlig unbekannt. Ich studierte in Rom Wirtschaft und wollte Finanzberater werden. Ich achtete nicht einmal besonders darauf, was ich ass. Mein Vater wandelte inzwischen seine Pasticceria in Rivisondoli in eine Trattoria um. Servierte einfaches Essen. Cucina abruzzese. Ein bisschen Pasta. Das obligate Lamm vom Grill. Dann erkrankte er und meine Schwester Cristiana, mit der ich alles aufgebaut habe und die heute das Restaurant leitet, bat mich in der Trattoria auszuhelfen, bis wir einen Käufer gefunden hätten. Ich liess mein Studium fallen und kehrte heim, um etwas zu entdecken, das meine Leidenschaft entfachte und mich Schritt für Schritt vorantrieb.
Niko und seine Schwester Cristiana ©Francesco-Fioramonti
Und die Einwohner von Rivisondoli freuten sich und sagten, endlich ein Gourmetlokal im Dorf!
Naja, am Anfang war es alles andere als einfach. Menschen geben ungern auf, was sie mögen und das trifft ganz besonders zu, wenn es um ihre Essgewohnheiten geht. Ich blieb zwar der kernigen Küche meiner Region treu, befreite sie aber von Folklore und Rustikalität. Wir verringerten die Anzahl der Gedecke und trieben die Suche nach qualitativ hochwertigen Zutaten und präziser Zubereitung voran. Bald wurde es in Rivisondoli zu eng. Ich machte mich auf die Suche nach etwas Grösserem und fand in Castel di Sangro Casadonna. Dieses monumentale Kloster aus dem 16. Jahrhundert. Ich habe es gekauft und gemeinsam mit meiner Schwester saniert und umstrukturiert. Gegenüber dem «Reale» in Rivisondoli mit einer Fläche von 130 m2 mussten wir nun eine Fläche von 2600 m2 bewirtschaften.
«Reale» Intérieur, gradlinig und schnörkellos ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS
Und finanzkräftige Investoren an Board holen?
Nein. Ich habe alles selbst über Banken finanziert. Ich will so unabhängig wie möglich arbeiten. Wir betreiben neben dem Restaurant auch ein Boutique-Hotel und das Ausbildungszentrum «Niko Romito Formazione» für junge Köche, die bei null anfangen. Ich selbst habe ja nie eine Kochschule besucht oder eine entsprechende Ausbildung gemacht. Es ist mir daher wichtig, dass Jungköche bei uns sehr schnell Praxis in allen Bereichen sammeln, experimentieren und Verantwortung übernehmen können. Mit meinem neuen Konzept «Spazio» betreibe ich vier Restaurant-Laboratorien in Rivosondoli, Rom und Mailand, in denen die Köche aus unserer Schule arbeiten. «Spazio» bietet authentische italienische Küche. Schlicht, schnörkellos und bezahlbar. Keine Hochgastronomie, keine Tischwäsche, keine Kellner. Dafür saubere Produkte und präzise Kochtechniken. Die Köche stehen in direktem Dialog mit den Gästen. Die Leute lieben es!
Warum haben die Leute dennoch akzeptiert was Niko macht?
Das geschah phasenweise. Wir haben zuerst die klassischen Gerichte der Region schlanker gemacht. Dann haben wir angefangen, eigene Rezepturen zu entwickeln und schliesslich haben wir angefangen, Grenzen zu überschreiten und neue, eigene Wege zu gehen – dabei wenden wir uns aber sehr intensiv den kulinarischen Wurzeln der Region zu. Das ist an einem Gericht wie verza e patate sehr gut ablesbar. Ein Profi erkennt, was hinter diesem vermeintlich einfachen Gericht steckt.
Ein Amateur erkennt die Simplizität. Er erkennt die Zutaten, ja, es ist Wirsing. Aber es schmeckt ungleich intensiv. Dies sind einzigartige Gerichte, die unverkennbar unserer Philosophie entspringen und als Signature Dish anerkannt sind.
Verza e Patate auf Vimeo.
Welchen Stellenwert hat das traditionelle Küchenhandwerk der Frauen in Italien?
Einen Enormen! Es ist die Besonderheit, die Stärke Italiens. Übermittelt von Generation zu Generation. Es ist die Basis der italienischen Gastronomie. Aus der häuslichen Zubereitung von Speisen entstanden zuerst die Osterie und Trattorie, in welchen Gäste verpflegt wurden. Erst viel später entstanden in Italien auch Restaurants. Die Restauration ist ein französisches Konzept.
Das Positive an der Tradition ist, dass man aus einer reichen Basis schöpfen kann. Auf der anderen Seite, kann es die Entwicklung für Neues limitieren. Ich versuche immer eine Balance zu finden.
Die Gäste, wir alle, suchen immer einen Anknüpfungspunkt, eine Erinnerung an die Gerichte unserer Kindheit, an das was uns unsere Mütter und Grossmütter serviert haben. Wenn ich es schaffe, mit einem modernen Gericht die Emotionen und Erinnerungen abzurufen, ist der Akt gelungen. Was mir aufgefallen ist: In Ländern, in denen die Tradition des Kochens zuhause weniger stark ausgeprägt ist, sind die Küchenchefs kreativer!
Assoluto di cipolle parmigiano e zafferano ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS
Wovon träumt ein Koch, der innerhalb von sieben Jahren mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde?
All das zu konsolidieren, was er bisher erreicht hat. Und darüber hinaus: An künftigen Projekten zu arbeiten. Das nächste startet diesen Herbst. Gemeinsam mit der «Sapienza» Universität in Rom.
Wir müssen das gastronomische Angebot in italienischen Spitälern neu definieren und gestalten. Eine Formel, ein zeitgemässes Konzept finden. Eines, das eine hohe kulinarische Qualität garantiert. Ein System mit simplen, leicht umsetzbaren Kochtechniken, das es erlaubt, auch mit wenig geschultem Personal appetitliche und vollwertige Speisen zuzubereiten. Wir werden es erstmals im «Cristo Re» applizieren. Es geht auch um Nachhaltigkeit. Es kann nicht sein, dass du heute in einem italienischen Spital Essen bekommst, dass dich krank statt gesund macht. Das Problem ist, dass heute gemäss den EU-Richtlinien nur geprüft wird, welche Lebensmittel in den Wareneingang gelangen. Niemand kontrolliert, was schlussendlich auf den Teller kommt, wie die Speisen aussehen, schmecken und welchen Nährwert sie haben. Wir haben es analysiert und der Zustand ist desolat. Und das in einem Land wie Italien! Wo traditionelles, geschmackvolles Essen eine so grosse Rolle spielt.
Kalbsbries, Rahm, Zitrone, Salz ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS
Wie arbeitet Niko Romito, welcher Ton, welche Hierarchie herrscht in deiner Küche?
Ich glaube, es ist eine sehr intensive, aber angenehme Atmosphäre. Still und konzentriert. Niemand schreit herum. Wir sind in horizontalen, nicht vertikalen Linien organisiert. Jede Station hat einen Verantwortlichen. Ich habe keinen Souschef, sondern vier Stationsverantwortliche. Wir verstehen uns als starkes Team, welches gemeinsam Ziele erreicht. Jedes Gericht, das wir entwickeln ist Teamwork. Diese Qualität spürt der Gast. Nicht nur im Restaurant. Die Stunden, die du in Casadonna verbringst – die nimmst du alle mit nach hause.
Kalbs-Gel, Steinpilze, Mandeln, Rosmarin, Trüffel ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS
Erzähl mir noch etwas über das fantastische Brot, das ihr in Abruzzo habt.
Ach, das Brot la bella pagnotta! Wir haben in Casadonna eine 70 m2 grosse Backstube mit zwei fulltime Bäckern. Weisst du, ich habe mich schon vor Jahren vom Körbchen mit den verschiedenen Brötchen verabschiedet. Wir verzichten auf die üblichen Brioches oder aromatisierten Focaccia-Brötchen. Ich will den Gästen ein Brot servieren, das einen Wert hat, eines, das sie nie mehr vergessen. Wir servieren es im Menü als eigenständigen Gang. Ohne Butter. Ohne Olivenöl. Nur ein Stück Brot. Damit man sich wieder bewusst wird, wie viel mehr Brot sein kann als einfach nur eine Sättigungsbeilage. Wir arbeiten mit lievito madre, einer natürlichen Mutterhefe und sehr langer, retardierter Teigführung bei kühlen Temperaturen. Die hohe Hydratation von 90% gibt uns eine sehr weiche, luftige Krume. Ausserdem verwenden wir alte Weizensorten, wie die autochtone «Solina», die ein Bauer für uns anbaut. Sie ist nicht so ertragsreich wie moderne Weizensorten, dafür ist sie resistenter und benötigt weniger Pestizide, ist reicher an Nährstoffen und ärmer an Gluten, was sich vorteilhaft auf die Verträglichkeit auswirkt.
Du lebst ja ganz in der Nähe von Pescasseroli, wo meine Eltern daheim sind. Ganz ehrlich, wie ist die Pizza bianca von «Pinocchio»?
Schau, ich habe wirklich in ganz Italien hervorragende Pizze bianche und Focaccie gekostet, vor allem in Sizilien und Apulien ist die Qualität hervorragend. Aber die Pizza und übrigens auch das Brot vom «Vecchio Forno» ist wirklich aussergewöhnlich gut!
Dangge duusig für diesen Beitrag! Ach, jetzt wo Tante Ceccarelli kein Amore mehr macht, wie sollen wir da unsere Wurzeln bewahren? Mit Niko haben wir wenigstens die Liebe, die über den Magen geht. Und das ist nicht wenig: ein neues Sanktuarium für eine Pilgerfahrt ins Glück! Man müsste es fast mit der Corriera anstreben – o del Carmelo, prega per noi 😉
-Oder: Zu Fuss hinpilgern! Weil, Corriera ist ja auch nicht mehr, die läuternde …
-Tatsächlich zu Fuß?
-Je öfter ich in Italien weile, desto mehr verdichtet sich der Verdacht, dass ich dieses Land eines Tages unbedingt – im wahrsten Sinne des Wortes – erfahren muss. In Form einer würdigen Pilgerreise. Also jedenfalls mit dem Rennrad.
Naja, nächtigt man in Pescasseroli, ist es eine gute Marathon-Distanz bis zum königlichen Refektorium. Zu Fuss mag das über die Berge wahrlich sehr beschwerlich sein, es sei denn, man reitet wie Adso von Melk auf einem Esel und rastet entsprechend öfter. Mit dem Stahlesel scheint mir dieser Weg deutlich Appetit anregender. Aber wie ich unsereiner Weicheier kenne, wird es wieder das Auto sein, dafür mit einem Abstecher nach Ovids Sulmona, wo auch George Clooney gegessen hat 😉
-Grandios das Video vom Kabis. Ich erfreute mich als Chemiker am Rotovapor von Buechi Flawil, Vakuumdestillation des Anis. Aber ich werde auch weiterhin meine Kabis mit was immer, beispielsweise mit Shitake Pilzen, simpel gedaempft essen. Schoener Bericht, wie immer.
-Gruss aus Thailand, Erich
Die Gebaeulichkeiten koennten von Valerio Olgiati sein, sind es jedoch hoechstwahrscheinlich nicht.
-Du vermutest richtig, Erich: Nicht Olgiati. Die Neugestaltung des Klosters wurde von Leonardo De Carlo vom Studio Leonardo Project, Pescara, umgesetzt, wie ich den Presseunterlagen entnehmen kann.
-Leider geht die Kochkunst der Italiener und die Tradition des schönen tafelns laut Berichten in den Medien den Bach hinunter. In den Familien wird auch nicht mehr so gekocht wie noch eine Generation vor uns. La mamma non sta piú a casa, was ich auch verstehe, denn die Frau hat in Italien sonst so viel nachzuholen. Die Übergewichtigkeit der Erwachsenen und der Kinder nimmt rasant zu. Es ist jedoch schade, dass die Familien, nicht nur Frauen, Traditionen fallen lassen. Wenn man hört, dass bei Familienfesten aus Pklastikgeschirr gegessen wird stehen einem die Haare auf.
-[…] von Dreisternekoch Niko Romito im neuen Mercato del Duomo (eh ein Must-see für Gourmets), gleich beim Dom in der Galleria […]
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