Tausendundein Klischee

Tajine

«Hello, Deutschland? France? España? No? Eeh, Italiano!?»

An jeder Ecke dasselbe Spiel. Das war – vor einer kleinen Ewigkeit zumindest – in den Strassen von Marrakesch die Standardanrede. Viel hat sich wohl trotz vielen Veränderungen nicht gross geändert, wenn ich die schöne Abschiedsgeschichte von Helge Timmenberg lese.

Dabei trage ich weder Shorts mit weissen Sportsöckchen in Klettverschluss-Sandalen noch eine Kamera um den Hals. Ich bin «Habibi Claudio», was so viel bedeutet wie Liebling Claudio.

So jedenfalls nennen sie mich in der Familie meines Schwagers, und der ist mein Begleiter und selbst Marokkaner. Nein, besser noch: Berber. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die den Teppich-, Schmuck- oder Was-auch-immer-Händlern eh Merguez ist, also Wurscht.

Für sie war ich einfach eine fette Brieftasche auf zwei Beinen. Meine Frau hingegen war: «Eeh, la Gazelle!». Ausser sie signalisierte, genau wie ich, bei jeder Anmache dezidiertes Desinteresse. Dann hiess es: «Eh, quoi, tu est raciste!? Pourquoi tu est raciste!?». Oder es kam, auch wenn wir schon 50 Meter weiter waren, ein: «What do you think, you‘re not a beauty!» hinterhergerufen.

Marokko ist trotzdem schön. Unverschämt schön sogar. Erst recht in der Erinnerung. Und das Essen ist schlicht betörend. Sogar Nichtalkoholisches wie «le whisky marocain», frischer, mit 128 Stück Zucker gesüsster, Pfefferminztee, macht dich komplett betrunken vor Genussfreude.

Wenn mich solche Wehmut packt, ist wieder mal eine Art Tajine angesagt. Zwar habe ich auch keinen original marokkanischen Zipfeltopf, aber ein Terracottabräter sollte es schon sein. Damit kann man wunderbar sanft und saftig garen.

Zuerst werden die Hühnerstücke rundherum in Olivenöl angebraten. Ich mache das in einer Metall-Kasserolle und lege erst dann das Huhn in das irdene Gefäss. Danach kommen, ebenfalls in die Metall-Kasserolle: eine grosse Gemüsezwiebel in Streifen, zwei zerdrückte Knoblauchzehen, ein Stück frischer Ingwer und etwa zehn Safranfäden. Alles sanft glasieren.

Hitze etwas erhöhen und mit dem Saft einer Zitrone ablöschen. Dabei den schönen Bratensatz vom Poulet vom Topfboden kratzen. Paprikapulver dazu, Pfeffer und etwa einen Liter selbstgemachte Hühnerbrühe. Wie, keine selbstgemachte da? Nein, unverzichtbar ist das nicht, aber sagen wir, unverzeihlich?

Auf Kurkuma, Kreuzkümmel, Raz el Hanout und dergleichen kann ich hingegen verzichten. Das Gericht küsst auch in europäisiert-gemässigter Form schönste Erinnerungen wach.

Die Flüssigkeit kommt nun mit längs halbierten Kartoffeln und Karotten im Terracottabräter für eine Dreiviertelstunde in den 200 Grad heissen Ofen. Danach kommen für weitere 20 Minuten Buschbohnen hinzu. Für die letzten 10 Minuten dann noch ein paar Zweige glatte Petersilie (wer mag, auch Koriander) und Oliven.

Grün oder schwarz, je nach Vorliebe. Aber entsteinte empfehle ich nicht. Diese matschigen Dinger schmecken nur halb so gut wie die ganze Frucht. Und beim Essen soll man ruhig etwas zum Spielen im Mund haben. Wir sind ja nicht im Altersheim oder mit gebrochenem Kiefer im Spital.

Am besten tunkt man die herrlich safranisierte, leicht bitter-säuerliche Sauce mit viel Sesam-Fladenbrot auf, wie man es bei vielen türkischen Händlern oder grösseren Dönerbuden bekommt. Nostalgiker wie ich klemmen sogar Speisestücke zwischen das Brot und führen den Happen dann zum Mund.

Schon vergessen? In Marokko isst man doch von Hand!

Und Klischees werden genau so viele erfüllt wie entlarvt. Kommt ganz darauf an, wie fest man sich darauf einlässt.

Tajine Teller


24 Kommentare zu Tausendundein Klischee

  1. Barbara am 8. Mai 2009 at 08:26:

    Wunderschön erzählt und wunderschöne Fotos – ich fühle mich zurück auf dem Djemaa el-Fna mit all den Gerüchen und dem Lärm, klasse!

    Wobei ich ehrlich gesagt Tajine gar nicht so mag…

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  2. Lars am 8. Mai 2009 at 09:54:

    Als ich Anfang der Achtzigerjahre gerade mal Achtzehnjährig und per Interrail in Marokko weilte, wusste ich nie, wie das Zeugs hiess, was wir gerade assen. Ich weiss nur noch, es war immer verdammt gut.

    Dein Artikel weckt so manche Erinnerung, mehr Abenteuer hatte ich in keinem Urlaub – aber manchmal war es fast zu krass. Nach der einen Woche Marokko machten wir erstmal Erholungsurlaub in Portugal. Wo mir auch gleich die verdammt guten Sardinen vom Holzkohlegrill in den Sinn kommen 🙂

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  3. anette am 8. Mai 2009 at 10:30:

    mmmmmmhhhhhhhh…..köstlich….die arabische küche immer ! … unbedingt mit koriander in diesem fall…
    ich mag auch die libanesische küche ,die trefflich beide kulturkreise des mittelmeers vereinigt…
    eine wahre trouvaille dein blog ! ich in begeistert ! mahlzeit!

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  4. katha am 8. Mai 2009 at 13:01:

    zuerst: danke für den timmerberg-link, das ist ja eine ziemlich bittersüsse geschichte, gänsehaut. und deine tajine: hast du das claudia rhoden buch (das schöne aus dem christian verlag auf deutsch)? das könnte dir taugen.

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  5. Mike Seeger am 8. Mai 2009 at 18:21:

    So eine Tajine wäre doch mal was, auf dem Grill zubereitet. Vorteil: Alle Beteiligten können gleichzeitig essen, auch der „Grillmeister“.
    Die Geschichte von Timmenberg hatte ich tatsächlich schon vor einigen Wochen gelesen. Klein ist die Welt.
    In Marookko war ich noch nie. Meine Frau bekomme ich da nicht hin. Müsste ich also mal allein probieren, oder meinen Sohn und/oder die Tochter mitnehmen. Jetzt schaue ich mal, wo ich so ein holzkohletaugliches Tajine herbekomme. Gruß an die rassistische Gazelle.

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  6. Claudio am 8. Mai 2009 at 21:09:

    Ja, diese Kulisse kann einem echt Sand in die Augen streuen, Barbara. Was waren denn deine Lieblinge, Couscous? Pastilla? Harira? Brochettes? Ja, immer verdammt gut, Lars, sogar für mich als kleiner Hypochonder ist es ein grosses Wunder, wie gut wir immer assen bei den teilweise hygienisch echt prekären Verhältnissen – nie was eingefangen. Libanesisch kenn ich nur von einem Restaurant in Zürich, Anette, sehr appetitlich die ganzen Mezze! Werbespruch des pomadigen Kellners: „Stehe auf Karte 22 Mezze, komme auf Tisch 26! Ihr seid mein herzliche Freunde!“. Danke für den Tipp, Katha, noch lieber als ein Kochbuch wäre mir natürlich learning by doing bei der Familie meines Schwagers. Sagen wir mal so drei, vier Monate, ich muss ja nicht gleich einen auf Timmenberg’sche Zeitrechnung machen. Da liegst du natürlich wieder mal genau richtig mit dem Grill, Mike, genau so wirds in Marokko zubereitet. Falls du mal hingehst – lass die schöne Helena zuhause bei der Mutter. Die Drahtseilnerven, die du für sie brauchst, trau ich dir nicht zu. Versteh mich bitte nicht falsch, aber wenn du daheim schon Parmesanblättchen verteidigst – ich will mir nicht ausdenken, was du dann mit einem „Touristenführer“ anstellen würdest, der deiner Tochter die „Schönheiten“ seiner Stadt zeigen will …

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  7. Zoolicious am 9. Mai 2009 at 17:19:

    War es nicht Anthony Bourdain in einem seiner Bücher, der auszog, die Leckereien Marokkos zu verkosten und ein ums andere Mal „nur“ Tagine bekommen hat, bis es ihm zum Hals raushing?

    Auf jeden Fall sehr amüsant geschrieben, Eintopf-Freund werde ich dennoch nicht. 😉

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  8. Claudio am 12. Mai 2009 at 11:03:

    Doch, doch, Zoolicious, und hat er uns nicht auch von einem 7-Stunden-Lamm vorgeschwärmt, das so zart war, dass man es mit einem Löffel essen konnte? Ich glaub, das mach ich dieses Wochenende!

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  9. Jutta am 12. Mai 2009 at 13:09:

    Eine Marokko-Rundreise haben wir im letzten Jahr gemacht. Ehrlich gesagt, wir sind überhaupt nicht angesprochen worden. Vielleicht war es im März noch nicht touristisch-voll genug? Im Gegensatz zu Barbara mag ich Tajine sehr gerne, ich habe mir auch gleich so ein Tongefäß besorgt, weiß aber nicht wirklich, wie ich es benutzen soll. Überhaupt hat mir das Essen in Marokko, so es denn landestypisch angeboten wurde, sehr gut gefallen.
    Ich habe übrigens Deinen Ruf nach guten Kartoffeln bei Robert gelesen. Einige Blogger und auch ich bestellen ab und an (ich habe mittlerweile ein Abo) hier:

    https://www.erlesene-kartoffeln.de

    Ich bin sehr zufrieden und die Qualität rechtfertigt m. E. den hohen Preis.

    Liebe Grüße!

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  10. Claudio am 12. Mai 2009 at 14:56:

    Tatsächlich? Nicht angesprochen worden? Das ist vielleicht das Verdienst vom jungen König Mohammed VI, dem viele in Sachen Staatsführung Aufgeschlossenheit und Modernisierung attestieren. Der Kartoffel-Link ist ja super, danke! Hab zum Beispiel schon lange keine zypriotischen Frühkartoffeln mehr gegessen, aber die besten Erinnerungen daran.

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  11. Graustein am 12. Mai 2009 at 16:23:

    Ich lese diese Seite schon seit langer Zeit und war immer schweigend.
    Aber mit diesem Beitrag kamen so viele Erinnerungen herauf, da muss ich nun einfach schreiben.
    Anfang der 80ziger war ich in Tanger, 2 Wochen gelebt mit einer marokkanischen Familie…2 Wochen Inlandküche genossen…bis heute lassen mich diese Geschmackserlebnisse nicht los und ich versuche sie ab und an wieder zubekommen/zu beleben.
    Diese Freiheit vom Besteck, ein Löffel nur, wenn es sein musste; ansonsten Brot als Griffhilfe.
    Die Hochachtung vor dem Gast, dem der Chef des Hauses die besten Bissen in den Mund legte…
    Dieses Post hat wirklich etwas von 1000 und 1nem Traum. 🙂

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  12. Claudio am 12. Mai 2009 at 21:56:

    Grandiose Beobachtung, Graustein! Diese zentrale und höchst eigentümliche Geste, unter dem Couscous-Berg die besten und grössten Fleischstücke hervor zu klauben und sie dem Gast diskret hin zu schieben. Danke, hatte ich glatt vergessen – das Brechen des Schweigegelübdes hat sich gelohnt. Weiterhin eine vergnügliche Lektüre auf diesem Blog!

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  13. multikulinaria am 14. Mai 2009 at 10:19:

    Bekomme Fernweh! Und Appetit…
    Danke für den – wie immer vergnüglichen – Leckerbissen!

    Ich war noch nie so richtig in Nordafrika – mit Markt schlendern und allem Pi-pa-po. Ich war nur mal eine Woche mit Kamelen und zu Fuß im Sinaii unterwegs, aber da gab es dann eher rustikal über dem Lagerfeuer geköcheltes aus Plastiktellern zu essen. Aber sehr köstlich.
    Die interessante Erfahrung mit den Händen zu essen (mal abgesehen von der frühkindlichen Phase und Erfahrungen am Dönerstand) hatte ich seinerzeit in Bangladesh gemacht. Mit etwas Übung und Hygiene ganz angenehm…

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  14. Mario am 14. Mai 2009 at 15:02:

    Hmmm… (Bauchstreichel).
    Vergangene Tage war ich lecker zum Essen eingeladen.
    Es gab das Persische Nationalgericht, selbstgemachten Ayran – der Orient ist eine Geschmacksreise!

    Wer aus der Nähe Köln kommt, dem empfehle ich das Al Salam (www.alsalam.de)
    Samstags lege ich da auf und kann bestätigen, dass Küche und Bar qualitativ keine Wünsche mehr offen lassen.

    Beste Grüße,
    Mario

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  15. Kirsten am 14. Mai 2009 at 17:35:

    So, Claudio, das haste nun davon: jetzt hab ich 1. Fernweh und 2. Hunger!

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  16. Schnick Schnack Schnuck am 20. Mai 2009 at 07:26:

    Diese Geschichte lässt mein Reisefieber aufwallen, aber sag mal: Kreuzkümmel schmeckt doch an sich viel gemäßigter, als der hier gängige und schnell muffig anmutende Kümmel? Ich habe ihn hier jedenfalls ob seiner feinen Note umgehend für mich übernommen.

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  17. Ellja am 20. Mai 2009 at 15:18:

    … aber nur mit der rechten! Was also machen als Linkshänderin? Löffel nehmen? Und auch wenn „Teller ablecken“ nicht marokkanisch ist, bei dem Gericht absolute Pflicht!

    lg
    Ellja

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  18. Mario am 21. Mai 2009 at 17:47:

    Herr Claudio,
    ich habe wieder Hunger auf Neues 😉

    Beste Grüße,
    Mario

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  19. Claudio am 21. Mai 2009 at 21:57:

    Ich finde, es gibt eh Vielerlei, das von Hand gegessen gehört, multikulinaria, nicht nur Marokkanisches, sonst schmeckt es doch nur halb so gut. Na, dann nix wie hin, zum Marokkaner ums Eck, Kirsten. Ist immer eine Frage der Menge, SchnickSchnackSchnuck. Ja, Ellja, Löffel ist absolut legitim in Marokko! Aber sag mal, der toskanische Hühncheneintopf deiner Oma – möchtest du mir nicht verraten, wie der geht? Geht mir genauso, Mario, muss mir aber zuerst ordentlich was anfuttern, bevor ich wieder posten kann 😉

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  20. Ellja am 22. Mai 2009 at 08:48:

    gerne, demnächst in meinem Blog, versprochen 🙂

    lg ellja

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  21. Marqueee am 31. Juli 2009 at 20:38:

    Hallo Claudio,

    heute bin ich endlich mal dazu gekommen, Dein Rezept nachzukochen (nachdem ich im Mai darüber gestolpert bin und im schon im April den perfekten Topf dafür geschenkt bekam). Was soll ich sagen: Ich schulde Dir Dank für ein hervorragendes Abendessen – und viele, viele zukünftige. Expliziten Dank auch für die Ermunterung, auf Raz el Hanout zu verzichten. Das feine Spiel zwischen Säure, Safran, Ingwer und (in meinem Falle) Schärfe (wg. Piment d’Espelette anstelle von Paprika) kommt so wirklich sehr schön zur Geltung.

    Liebe Grüße aus Köln in die Schweiz,
    Marqueee

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  22. Anonyme Köche » Blog Archive » Endlich im Topf gelandet. am 11. Dezember 2009 at 23:22:

    […] geeigneten geschlossenen Kochgeschirr bin ich auf meinen Steinguttopf gekommen, in welchem mir mein Tajine immer besonders gut […]

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  23. Anonyme Köche » Blog Archive » Andere Laender, andere Kochsitten am 6. Mai 2011 at 16:40:

    […] Pardon, ich schwelge gerade wieder einmal in Tausendundeinem ein Klischee. […]

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  24. Tom Dexter am 25. Mai 2020 at 07:08:

    Ich habe jetzt Hunger, nachdem ich das alles von dir gelesen habe. Lassen Sie mich etwas hinzufügen; Normalerweise bestelle ich Kartoffeln online im https://kartoffelshop.de/ und sie liefern frische Kartoffeln. Jetzt werde ich Ihre Art von Gericht mit diesen Kartoffeln machen.
    Prost

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