James Kent

Ziemlich cooler Spitzenkoch vom ziemlich coolen NoMad in New York.

Am St. Moritz Gourmet Festival 2017 habe ich mich anlässlich eines zweiten Gourmet Dîners im Carlton Hotel mit einem weiteren Spitzenkoch aus USA unterhalten: James Kent ist Küchenchef in Daniel Humms Restaurant NoMad im gleichnamigen New Yorker Hotel.

Seine Küche ist mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet und die James Beard Foundation nominierte ihn für den Best Chef NYC 2016. Sein beruflicher Weg führte über grosse Stationen in London und Paris. 2010 gewann der er  den Bocuse d’Or USA. Er arbeitet bereits zehn Jahre im Team von Daniel Humm und war zuletzt Chef de Cuisine im Drei-Sterne-Restaurant Eleven Madison Park, bevor er die Leitung der NoMad-Küche übernahm. «Dass ich als junger Koch ins Eleven Madison Park kam und Gelegenheit hatte, im Team von Daniel Humm eins der besten Restaurants unserer Zeit aufzubauen, hat mich nicht nur beruflich deutlich vorangebracht, sondern auch als Mensch geprägt».

James Kent

Es heisst, das Küchenteam im NoMad sei eine Happy Family, der Umgangston heiter und kollegial. Ist es ein Vergnügen bei euch zu arbeiten?
Das freut mich zu hören! Ja, es läuft ziemlich cool untereinander, das stimmt. Die Hierarchie ist flach. Jeder kann sich einbringen. Aber jeder weiss auch hundert prozentig, was von ihm erwartet wird. Die  Kultur, die wir pflegen, liegt mir sehr am Herzen. Sie ist wichtig, denn sie inspiriert die Leute zum Arbeiten. Unser Job ist ziemlich hart, hektisch und herausfordernd. Und dennoch lieben wir, was wir tun. Du kannst die Leute aber nicht zwingen, etwas zu lieben, also musst du sie motivieren. Wer seine Leute einschüchtert, provoziert Angst und dann passieren Fehler. Wir möchten, dass unsere Köche stolz sind. Ganz nach dem Credo von Daniel Humm: „Make it nice!“. Meine Motivation ist, aus jungen Köchen Superköche zu machen. Ich sage ihnen, du kannst so erfolgreich werden wie ich oder Daniel,  alles ist möglich, wenn du daran glaubst.

Wie gross ist euer Team hier in St. Moritz?
Wir sind sieben Köche plus zwei Schweizer Köche. Ich habe vor allem die jüngeren Köche aus New York dabei, damit sie etwas Neues sehen und erleben können. Wir reisen ja viel übers Jahr mit Daniel Humm und kochen an einigen Events. Diese Erfahrung möchten wir den jungen Köchen mitgeben. Daniel ist ohnehin wahnsinnig inspirierend für uns alle.

Was macht einen guten Küchenchef aus?
Er muss dich zum Träumen bringen, beflügeln und inspirieren können! Meine Aufgabe ist es, das Beste aus den Leuten herauszuholen. Wie ein Coach. Schau mal, die besten Leute haben einen Coach. Nimm Roger Federer, der Beste von allen, aber selbst er hat einen Coach, der ihn motiviert und zu Höchstleistungen animiert. Bei uns läuft es so: Wenn jemand bei uns arbeiten will, wird er von uns bekocht. Wir servieren ihm die besten Gerichte und dann sagen wir ihm: So, und nun kochst du für uns – gib dein Bestes. Wir sind auch der Meinung, dass Fleiss und der Wille, etwas zu lernen, wichtiger sind als Talent.

Und was erwartest du, im Gegenzug, von einem Koch?
Ein Koch muss gewillt sein, zu lernen. Der Rest ergibt sich, wenn er sich in unser Team einfügt. Ich stelle vor allem aufrichtige Menschen mit einer guten Persönlichkeit an. Denn wir können niemandem beibringen, ein guter Mensch zu sein. Wenn jemand ein Arschloch ist, schlampig oder arrogant, dann wird er immer so sein. Ich stelle seit 10 Jahren Leute an und habe aus Fehlern gelernt. Am liebsten lasse ich sie für mich kochen. Man kann von einem Teller ablesen, welche Persönlichkeit dahintersteckt. Wenn du dann mit der Person darüber sprichst, was sie zubereitet hat, merkst du schnell, ob da jemand Demut hat oder den Grössenwahn. Wir alle geben unsere Handschrift in ein Gericht. Wie kochst du, wenn du dein Date beeindrucken möchtest? Wie viel Liebe und Aufmerksamkeit steckst du in ein Gericht, das du deiner Mutter oder deinen Kindern zubereitest? Das kann man ziemlich genau an einem Teller ablesen! Am Esstisch geht es oft um wichtige Dinge im Leben, wir pflegen Freundschaften, laden unsere Grossmutter ein, einigen uns mit einem Geschäftspartner. Am Tisch werden echt viele wichtige Entscheidungen getroffen.

Das Dinner hier im Carlton war unglaublich schlicht, aber auch unglaublich gut. Auf dem Teller nur zwei, drei Komponenten und man denkt sich beinahe, das sieht ja ganz einfach aus, aber es ist so intensiv. 
Entscheidend ist die Wahl bestmöglicher Zutaten und die Bewahrung ihres Charakters. Also nehmen wir ganz alltägliche Dinge, wie ein einfaches Huhn, und zaubern daraus das beste Geflügelgericht, das du je gegessen hast. Als junger Koch will man jeden Trick zeigen, den man draufhat. Meistens ist es dann zu viel des Guten und man verliert sich. Mit der Zeit wird man Selbstbewusster und konzentriert sich auf das Wesentliche. Unser Hauptziel ist: Das Essen muss delicious sein! Egal ob du bei uns im Restaurant isst, in einer der Bars, in der Bibliothek, im Atrium … es gibt ja verschiedenste Räume in unserem Hotel, in denen Gäste essen können. Das Ganze ist ein unglaublicher Ort mit einer magischen Atmosphäre – und egal wo du sitzt und was du isst: Es muss einfach wow! schmecken. Ganz ehrlich, es gibt Gäste, die haben bei uns eine Life Changing Experience was Essen angeht.

Dieses Hühner-Consommé zum Beispiel war geschmacklich so wuchtig und doch so leicht wie ein Tee.
Das freut mich, dass du das Wort Tee verwendest. Denn wir bereiten das Consommé tatsächlich wie einen Tee zu! Die Basis ist ein klassischer Hühnerfond, den wir sorgfältig klären. Dann geben wir ganz viele Pilze, Kräuter, Gewürze und Zitronenschalen dazu, lassen es nur einmal kurz aufkochen und dann decken wir den Topf ab und lassen ihn auskühlen. Auf diese Weise bleiben die ganz feinen Aromen der Zutaten erhalten und du schmeckst alles, von der Umamitiefe bis zu den frischen Zitrus- oder Estragonspitzen.

Auch bei den Tortelloni dachte ich, hm, okay, Tortelloni gefüllt mit Sellerie und Trüffel, ohne Effekthascherei, aber wie zum Henker bekommst du da so viel Geschmack hinein?
Sellerie und schwarzer Trüffel ist eine grossartige Kombination, es ist Daniel Humms liebste Kombination. Der Trick beim Sellerie ist, dass wir ihn nach dem garen in Milch zu einem Püree verarbeiten und dieses dann mehrere Stunden trocknen, um das Aroma zu konzentrieren. Für die Füllung verwenden wir dann noch beste Trüffel, den richtigen Parmesan und etwas Rahm. That’s it.

Was macht dich wütend?
Vieles! (Lacht). Leute, die gleichgültig tun und sich nicht engagieren, machen mich rasend. Oder wenn jemand starrköpfig ist, keine andere Meinung gelten lässt und sich nichts beibringen lassen will.

Wo kannst du dich so richtig entspannen?
Beim Graffity sprayen! Ich habe als Kid in New York Wände und Züge getagged. Heute mache ich diverse Auftragsarbeiten oder arbeite einfach um mich zu entspannen. Oder ich gehe laufen und trainiere für einen Marathon. Ich laufe unglaublich gerne. Wir haben auch ein Make it Nice Running Team und motivieren uns gegenseitig.

Das Dinner war von frappanter Simplizität – handwerklich und vor allem geschmacklich allerdings herausragend. Auch diesmal, ich bitte um Nachsicht, leider ohne Fotos, weil es im Restaurant zu dunkel war.

Zum Auftakt gab es ein Aschebrot. Es ist eine knusprige, luftige und lauwarme Focaccia von Pâtisserie Chef Mark Welker. Das Gebäck ist schwarz. Das kommt von der beigemischten Bambusasche im Teig.

Man sieht das jetzt oft: Schwarze Brötchen. Ich persönlich kann dem Trend leider nichts abgewinnen. Nichts ist für mein Empfinden schöner und appetitlicher als eine goldene Kruste. Was mir als Liebhaber von gutem Brot jedoch besonders gefällt: Es wird als eigenständiger Gang serviert. Und nichts – keine Butter, kein Olivenöl, kein Aufstrich, niente – lenkt davon ab. Das ist durchaus erwünscht. Butter würden sie auch im NoMad nur auf ausdrücklichen Wunsch servieren. Das Gebäck hat auch deshalb viel Geschmack, weil es mit Zwiebel und Süsskartoffel gefüllt ist.

Der nächste Gang ist ein Matsutake-Consommé. Eine Kraftbrühe mit Huhn-, Pilz und Trüffelgeschmack, so klar und leicht wie ein Tee und dabei von so tiefer und komplexer Aromatik.

Die drei folgenden Tortelloni sind schon fast der Höhepunkt des Abends. Üppig gefüllt mit cremigem Sellerie und schwarzem Trüffel, begleitet von einem Parmesanschaum. Unter der Pasta eine intensive Steinpilzreduktion, klebrig wie eine Demiglace. Ein Traum.

Es folgt ein perfekt gegartes Stück vom Steinbutt. Dazu eine kräftig reduzierte Bratensauce vom Ochsenschwanz, inklusive dem faserig-zartem, zerkochtem Fleisch. Wahnsinnig gute Kombination. Schön dazu auch der rote und weisse Kohlrabi in unterschiedlichen Texturen: Als süssliches Püree, in rohen Scheiben und, als säuerlicher Kontrast, als fermentierte Würfel.

Dann folgt das berühmte NoMad-Chicken. Es wird am Tisch im Ganzen präsentiert. Aufgetragen wird es in zwei Gängen. Einmal die mit Brioche, Foie gras und schwarzem Trüffel gefüllte Brust, dazu Apfelpüree, gegrillter Lauch und Geflügeljus. Danach das Schenkelfleisch gemischt mit Lauch, Apfel und krossen Hautstückchen. Es schmeckt wahnsinnig gut und vor allem so, als hätte es die liebenswürdigste Granny als Sonntagsessen zubereitet – und nicht etwa ein überdrehter Koch der mit crazy Kombinationen nach der ultimativen Geschmacksexplosion sucht – sehr tröstend und zuversichtlich das. Echtes Handwerk eben.

Der Dessertgang wird auf der Karte schlicht mit «Milk and Honey» vermerkt. Und: Mehr ist es eigentlich auch nicht, aber wiederum schmeckt es erstaunlich intensiv und unverfälscht. Zwei Nocken extrem cremiges Milcheis, darüber ein paar Fäden Honig und darunter bestes Karamell und knusprige Buttercookies. So simpel kann grandioses Essen sein.

Thank you, James! Hoffe, wir sehn uns das nächste Mal in New York.

James Kent and Claudio Del Principe

Übrigens: Wer das weltbeste Brathuhn zuhause nachkochen möchte, kann sich in diesem Video gleich von Daniel Humm himself anleiten lassen. Enjoy!


Der signature Tisch.

The Table by Kevin Fehling

Urban, modern, ungezwungen: Das Drei-Sterne-Lokal The Table by Kevin Fehling.

Am besten lässt man die Vorstellung zuhause, wie ein Restaurant mit der höchsten gastronomischen Auszeichnung auszusehen hat. The Table könnte auf den ersten Blick ebenso gut eine Bar, ein Showroom oder ein Studio für Innenarchitektur sein.

Der hohe Raum ist 100% kitschfrei: Sichtbeton, Edelholz, Hängeleuchten, offene Küche mit Chromstahl-Fronten. Das Lichtkonzept setzt warme, wohnliche Akzente. Und der Koch? Der ist – was seine Idee zeitgemässer Spitzenküche betrifft – gleichzeitig Designer, Künstler und Forscher. Und: Er ist, wie seine Berufskollegen Massimo Bottura, Nenad Mlinarevic, Holger Bodendorf und Tim Raue, Brand Ambassador für Maserati.

Auf Presse-Einladung des italienischen Sportwagenherstellers besuchte ich ihn und erlebte einen höchst unterhaltsamen und einzigartigen kulinarischen Abend.

Wir lassen uns im lederduftenden Fond des röhrenden Maserati Ghibli in den prosperierenden Hamburger Stadteil HafenCity chauffieren. Gleich hinter einem der meistfotografierten Sujets und UNESCO Welterbe Speicherstadt entstehen im grössten Stadtentwicklungs-Projekt Europas in den nächsten Jahren mehr als 12’000 Wohnungen und 50’000 Arbeitsplätze. Alle umgeben von Fluss- und Kanalläufen. Praktisch: Vom lässigen 25hours Hotel HafenCity sind es nur drei Gehminuten zu Kevin Fehlings The Table.

Der 39-jährige Spitzenkoch war von 2005 bis 2015 Küchenchef im Restaurant La Belle Epoque im Columbia Hotel Travemünde, wo sein kreatives Schaffen bereits 2013 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde. Im August 2015 eröffnete er sein eigenes Restaurant, welches auf Anhieb die Höchstbewertung bestätigte. Das hat in Deutschland vor ihm noch keiner geschafft. So viel dazu.

Kevin Fehling

Kapitän Kevin und seine Küchen-Crew machen kulinarisch klar Schiff.

Am schlangenförmigen Tisch finden maximal 20 Gäste Platz. Es gibt ein fixes Menü und einen freien Blick auf die Küche. Allerdings kann man das, was man beobachtet, nicht wirklich als kochen bezeichnen. Es wird vielmehr angerichtet. Still, konzentriert und hoch getaktet. Immerhin flämmt ab und zu einer der Köche mit einem knallroten Bunsenbrenner in der Grösse eines Autofeuerlöschers die Speisen mit langer Flamme und sorgt für zusätzliches Aufsehen.

Das Menü beginnt mit einer Reihe von kleinen Snacks. Als erster, Kevin Fehlings moderne Interpretation eines norddeutschen Klassikers: Fischbrötchen. Ein süsslicher Gurken-Macaron mit Gurkencreme, Lachs und Dill. Ein delikater, sehr aromatischer Happen, mit einer betonten Süsse. Es könnte ebenso gut eine Mignandise im Dessertgang sein. Ohnehin verschwinden ja die Grenzen in der Spitzengastronomie je länger je mehr: Nachspeisen sind salziger, gemüsiger, aromenkomplexer, Vorspeisen dafür weniger säurebetont, harmonischer und in der Form handwerklich vielschichtiger Miniaturen.

Fischbrötchen

Auch das nächste Amuse Bouche könnte aus der Hand eines Pâtissiers kommen. In einer eckigen Glasschale, die ein wenig an Opas Aschenbecher erinnert, steht ein zigarrenförmiger Zylinder. Auch hier wieder ein moderner Klassiker des Nordens: Labskaus. Ganz gross! Die Zylinderhülle ist ein intensiv schmeckendes Rote-Bete-Krokant, darin eine betörende Füllung, die durch kühle Petersilien-Perlen kontrastiert wird.

Labskaus

Das Spannende am eher dezenten Spargel-Espuma (kein Foto) im dritten Snack war die pfeffrige Kirschenüberraschung darunter.

Spannungsvoll auch die Komposition Soft-Chell-Crab „Marokko“, mit Krabben-Tempura, würzigem Couscous, Jogurt-Espuma und Arganöl-Vinaigrette. Fehling liebt es, ohne Einschränkung, Aromen und Zutaten aus aller Welt zu kombinieren.

Soft Shell Crab

Man hätte allen Grund nie wieder Thai Bun zu essen, wenn es nicht ein Thailändisches wäre oder dieses mollige Geschmacksbömbchen. Luftiges Bun gefüllt mit scharfen Garnelen und darauf zarter Schweinebauch mit Kokoscurry-Crème.

Banh mi

Als erster Hauptgang kommt: Die Nordsee. Auf einem grossen „Kieselstein“ finden sich feinste Meeresfrüchte wie klitzekleine Nordseekrabben, ein Stückchen geflämmte Makrele, eine Auster mit erstaunlich reinem Geschmack, Queller, Muscheln, eine nachgebaute Muschel, und eine Muschel aus Zitronengel. Komplementär dazu gefrorener Dillstaub und Austernschaum.

Nordsee

Ein Klassiker, den Fehling aus dem La belle Epoque in Travemünde, wo er zuletzt wirkte, mitgebracht hat, ist die Komposition mit Gänseleber, Erdbeere, Rhabarber und Waldmeister.

Das Erdbeerkrokant liegt als witziger Eyecatcher über den Komponenten. Man könnte es wegen der geriffelten Struktur für ein Fahrzeugteil halten, ein Rückstrahler oder so. Tatsächlich ist es die verkleinerte Form der mäandrierten Theke vom The Table und somit so etwas wie ein Key Visual. Geschmacklich ist das Gericht wiederum sehr ausbalanciert und perfekt aufeinander abgestimmt.

Foie Gras

Beim unglaublich zart konfierten Lachs von den Färöer Inseln ist es vor allem der Champonzusud, der mit tiefem Umami-Geschmack für grosse Stimmung sorgt. Als kräftiger Kontrast dazu Passionsfrucht und Yuzu, die von Miso in Balance gehalten werden, sowie eine geflämmte Gurke.

Lachs

Der Carabinero „Guatemala“ ist von ausserordentlich guter Qualität, was die Konsistenz betrifft, geschmacklich ist er jedoch weniger intensiv als erwartet. Auch die etwas schleimige Oberfläche empfand ich als unangenehm.

Carabinero

Der Taco mit Salsa dazu: Sehr erfrischend.

Taco

Am wenigsten Überraschung, wenn auch hocharomatisch, bot der Gang mit dem superzarten Lammrücken mit Orangen-Hollandaise, nachgebauter Olive und Rosmarinjus.

Lamm

Etwas gar weit hergeholt, die dazu gereichte Focaccia, die nicht wirklich einen tragenden Akzent dazu bot.

Focaccia

Bei den Nachspeisen lässt uns Baby Banane „Indisch“ von der Bezeichnung her zuerst einmal schmunzeln. Die ulkige Formulierung „Indisch“ (wie auch schon Soft-Shell-Crab „Marokko“ und Carabinero „ Guatemala“) erinnert an Gerichte wie Toast „Hawaii“, aber vielleicht ist dieser Spass ja beabsichtigt.

Beim ersten Löffel jedoch schiesst gleich die nächste Erinnerung in den Kopf: Riz Casimir! Wer in der Schweiz aufgewachsen ist, kennt diese klassische helvetische Auslegung von Curry-Reis mit exotischen Früchten (meistens aus der Dose!) aus Kindheitstagen, sonntäglichen Restaurantbesuchen oder Ferienlager. Hier als mutiges Dessert mit Kurkuma, Tandoori, Yasmin Reis und Sanddorn – und es schmeckt: phänomenal! Die Banane übrigens ist natürlich keine Baby Banane, sondern Bananeneis in Form einer Banane. Ein bisschen Spass muss sein.

Banane

Ich liebe Auberginen in fast allen Formen, aber als Eis? Ja, bitte, mehr davon! Erst recht in Kombination mit Melone, Kalamansi, Nori-Alge und Matcha-Tee. Grandios!

Aubergineneis

Beim Sandförmchen-Abguss des Schiefen Turms von Pisa aus Schokolade musste ich mich schon wieder fragen, ist das Parodie oder kann das so? Kevin Fehling meinte dazu, jede Speise kommt in einer bestimmten Form auf den Teller, die nicht unbedingt der ursprünglichen Form des Produkts entspricht. Warum also nicht eine Form wählen, die die Assoziation an den Ursprung eines Gerichts – Italien – auch optisch verstärkt.

Pisa Schokolade

Auf der Getränkeseite sorgt der heitere Sommelier David Eitel mit seiner spannenden Weinbegleitung für Furore. Fast vom Hocker gehauen hat mich die fantastische Riesling Auslese von Dreissigacker zur Foie Gras. Auch der in der Nase verquere, nach Kerosin und Bitumen duftende Sauvignon Blanc Grassnitzberg aus der Südsteiermark hinterliess eine einprägsamen Anker an ein erstklassiges Gesamterlebnis.

Dreissigacker Riesling Auslese


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Casadonna mit dem Ristorante Reale in Castel di Sangro ©Francesco-Scipioni

Der Ort ist archaisch. Die Gegend dünn besiedelt. Mit Dörfern, die wie Schwalbennester an den Felsen kleben. Mitten im idyllischen Nationalpark von Abruzzo. Wo das Klima rau sein kann und das Leben nicht immer Sonnenschein. Und gerade deshalb so echt und so ungeschönt schön wirkt.

An diesem Ort, fernab von allem, was an Spitzengastronomie erinnern könnte, betreibt Niko Romito in einem Kloster – wie passend – eine geradlinige, schnörkellose Küche mit besten Zutaten aus der Region. Allerdings auf allerhöchstem Niveau.

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Niko-Romito ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS

«Meine Gerichte werden oft als einfach bezeichnet. Das ist sehr richtig im Sinne von nicht kompliziert, bedeutet aber nicht, dass sie ohne Aufwand zubereitet sind. Beim Kochen kann Aufwand von Vorteil sein, Kompliziertheit hingegen nie. Genau diese spezielle Art der Einfachheit kann man nur durch unermüdliche Recherche erreichen – und durch Leidenschaft für die Balance.»

In sieben Jahren wurde das Restaurant mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Dieses Jahr rangiert sein «Ristorante Reale» zum ersten Mal unter den «World’s Best Restaurants».

Ich habe ihn an der Chef-Alps getroffen und mit ihm gesprochen.

Der Journalist Joe McGinnis schrieb «Das Wunder von Castel di Sangro». Ein Bestseller über einen regional unbedeutenden Fussballclub, der aus dem Nichts den mirakulösen Aufstieg in die prestigeträchtige Serie B schaffte. Das Märchen dauerte allerdings nicht lange. Du hingegen hast in Castel di Sangro wahrlich Geschichte geschrieben. Kannst du es eigentlich selber fassen?

Ich verstehe mich als den, der ich bin. Sehe, was ich die letzten Jahre erreicht habe und es überrascht mich nicht. Aber ich bemerke sehr wohl die Verblüffung der anderen.

Man fragt sich, war es ein Traum, Kalkül oder reiner Zufall? Wie schafft man ausgerechnet an einem Ort fernab jeglicher Spitzengastronomie den Aufstieg zu einem der höchst bewerteten Küchenchefs Italiens?

Ich hatte keine Ahnung. Mir war die Welt der Spitzengastronomie völlig unbekannt. Ich studierte in Rom Wirtschaft und wollte Finanzberater werden. Ich achtete nicht einmal besonders darauf, was ich ass. Mein Vater wandelte inzwischen seine Pasticceria in Rivisondoli in eine Trattoria um. Servierte einfaches Essen. Cucina abruzzese. Ein bisschen Pasta. Das obligate Lamm vom Grill. Dann erkrankte er und meine Schwester Cristiana, mit der ich alles aufgebaut habe und die heute das Restaurant leitet, bat mich in der Trattoria auszuhelfen, bis wir einen Käufer gefunden hätten. Ich liess mein Studium fallen und kehrte heim, um etwas zu entdecken, das meine Leidenschaft entfachte und mich Schritt für Schritt vorantrieb.

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Niko und seine Schwester Cristiana ©Francesco-Fioramonti

Und die Einwohner von Rivisondoli freuten sich und sagten, endlich ein Gourmetlokal im Dorf!

Naja, am Anfang war es alles andere als einfach. Menschen geben ungern auf, was sie mögen und das trifft ganz besonders zu, wenn es um ihre Essgewohnheiten geht. Ich blieb zwar der kernigen Küche meiner Region treu, befreite sie aber von Folklore und Rustikalität. Wir verringerten die Anzahl der Gedecke und trieben die Suche nach qualitativ hochwertigen Zutaten und präziser Zubereitung voran. Bald wurde es in Rivisondoli zu eng. Ich machte mich auf die Suche nach etwas Grösserem und fand in Castel di Sangro Casadonna. Dieses monumentale Kloster aus dem 16. Jahrhundert. Ich habe es gekauft und gemeinsam mit meiner Schwester saniert und umstrukturiert. Gegenüber dem «Reale» in Rivisondoli mit einer Fläche von 130 m2 mussten wir nun eine Fläche von 2600 m2 bewirtschaften.

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«Reale» Intérieur, gradlinig und schnörkellos ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS

Und finanzkräftige Investoren an Board holen?

Nein. Ich habe alles selbst über Banken finanziert. Ich will so unabhängig wie möglich arbeiten. Wir betreiben neben dem Restaurant auch ein Boutique-Hotel und das Ausbildungszentrum «Niko Romito Formazione» für junge Köche, die bei null anfangen. Ich selbst habe ja nie eine Kochschule besucht oder eine entsprechende Ausbildung gemacht. Es ist mir daher wichtig, dass Jungköche bei uns sehr schnell Praxis in allen Bereichen sammeln, experimentieren und Verantwortung übernehmen können. Mit meinem neuen Konzept «Spazio» betreibe ich vier Restaurant-Laboratorien in Rivosondoli, Rom und Mailand, in denen die Köche aus unserer Schule arbeiten. «Spazio» bietet authentische italienische Küche. Schlicht, schnörkellos und bezahlbar. Keine Hochgastronomie, keine Tischwäsche, keine Kellner. Dafür saubere Produkte und präzise Kochtechniken. Die Köche stehen in direktem Dialog mit den Gästen. Die Leute lieben es!

Warum haben die Leute dennoch akzeptiert was Niko macht?

Das geschah phasenweise. Wir haben zuerst die klassischen Gerichte der Region schlanker gemacht. Dann haben wir angefangen, eigene Rezepturen zu entwickeln und schliesslich haben wir angefangen, Grenzen zu überschreiten und neue, eigene Wege zu gehen – dabei wenden wir uns aber sehr intensiv den kulinarischen Wurzeln der Region zu. Das ist an einem Gericht wie verza e patate sehr gut ablesbar. Ein Profi erkennt, was hinter diesem vermeintlich einfachen Gericht steckt.

Ein Amateur erkennt die Simplizität. Er erkennt die Zutaten, ja, es ist Wirsing. Aber es schmeckt ungleich intensiv. Dies sind einzigartige Gerichte, die unverkennbar unserer Philosophie entspringen und als Signature Dish anerkannt sind.

Verza e Patate auf Vimeo.

Welchen Stellenwert hat das traditionelle Küchenhandwerk der Frauen in Italien?

Einen Enormen! Es ist die Besonderheit, die Stärke Italiens. Übermittelt von Generation zu Generation. Es ist die Basis der italienischen Gastronomie. Aus der häuslichen Zubereitung von Speisen entstanden zuerst die Osterie und Trattorie, in welchen Gäste verpflegt wurden. Erst viel später entstanden in Italien auch Restaurants. Die Restauration ist ein französisches Konzept.

Das Positive an der Tradition ist, dass man aus einer reichen Basis schöpfen kann. Auf der anderen Seite, kann es die Entwicklung für Neues limitieren. Ich versuche immer eine Balance zu finden.

Die Gäste, wir alle, suchen immer einen Anknüpfungspunkt, eine Erinnerung an die Gerichte unserer Kindheit, an das was uns unsere Mütter und Grossmütter serviert haben. Wenn ich es schaffe, mit einem modernen Gericht die Emotionen und Erinnerungen abzurufen, ist der Akt gelungen. Was mir aufgefallen ist: In Ländern, in denen die Tradition des Kochens zuhause weniger stark ausgeprägt ist, sind die Küchenchefs kreativer!

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Assoluto di cipolle parmigiano e zafferano ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS

Wovon träumt ein Koch, der innerhalb von sieben Jahren mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde?

All das zu konsolidieren, was er bisher erreicht hat. Und darüber hinaus: An künftigen Projekten zu arbeiten. Das nächste startet diesen Herbst. Gemeinsam mit der «Sapienza» Universität in Rom.

Wir müssen das gastronomische Angebot in italienischen Spitälern neu definieren und gestalten. Eine Formel, ein zeitgemässes Konzept finden. Eines, das eine hohe kulinarische Qualität garantiert. Ein System mit simplen, leicht umsetzbaren Kochtechniken, das es erlaubt, auch mit wenig geschultem Personal appetitliche und vollwertige Speisen zuzubereiten. Wir werden es erstmals im «Cristo Re» applizieren. Es geht auch um Nachhaltigkeit. Es kann nicht sein, dass du heute in einem italienischen Spital Essen bekommst, dass dich krank statt gesund macht. Das Problem ist, dass heute gemäss den EU-Richtlinien nur geprüft wird, welche Lebensmittel in den Wareneingang gelangen. Niemand kontrolliert, was schlussendlich auf den Teller kommt, wie die Speisen aussehen, schmecken und welchen Nährwert sie haben. Wir haben es analysiert und der Zustand ist desolat. Und das in einem Land wie Italien! Wo traditionelles, geschmackvolles Essen eine so grosse Rolle spielt.

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Kalbsbries, Rahm, Zitrone, Salz ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS

Wie arbeitet Niko Romito, welcher Ton, welche Hierarchie herrscht in deiner Küche?

Ich glaube, es ist eine sehr intensive, aber angenehme Atmosphäre. Still und konzentriert. Niemand schreit herum. Wir sind in horizontalen, nicht vertikalen Linien organisiert. Jede Station hat einen Verantwortlichen. Ich habe keinen Souschef, sondern vier Stationsverantwortliche. Wir verstehen uns als starkes Team, welches gemeinsam Ziele erreicht. Jedes Gericht, das wir entwickeln ist Teamwork. Diese Qualität spürt der Gast. Nicht nur im Restaurant. Die Stunden, die du in Casadonna verbringst – die nimmst du alle mit nach hause.

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Kalbs-Gel, Steinpilze, Mandeln, Rosmarin, Trüffel ©BRAMBILLA-SERRANI-PHOTOGRAPHERS

Erzähl mir noch etwas über das fantastische Brot, das ihr in Abruzzo habt.

Ach, das Brot la bella pagnotta! Wir haben in Casadonna eine 70 m2 grosse Backstube mit zwei fulltime Bäckern. Weisst du, ich habe mich schon vor Jahren vom Körbchen mit den verschiedenen Brötchen verabschiedet. Wir verzichten auf die üblichen Brioches oder aromatisierten Focaccia-Brötchen. Ich will den Gästen ein Brot servieren, das einen Wert hat, eines, das sie nie mehr vergessen. Wir servieren es im Menü als eigenständigen Gang. Ohne Butter. Ohne Olivenöl. Nur ein Stück Brot. Damit man sich wieder bewusst wird, wie viel mehr Brot sein kann als einfach nur eine Sättigungsbeilage. Wir arbeiten mit lievito madre, einer natürlichen Mutterhefe und sehr langer, retardierter Teigführung bei kühlen Temperaturen. Die hohe Hydratation von 90% gibt uns eine sehr weiche, luftige Krume. Ausserdem verwenden wir alte Weizensorten, wie die autochtone «Solina», die ein Bauer für uns anbaut. Sie ist nicht so ertragsreich wie moderne Weizensorten, dafür ist sie resistenter und benötigt weniger Pestizide, ist reicher an Nährstoffen und ärmer an Gluten, was sich vorteilhaft auf die Verträglichkeit auswirkt.

Du lebst ja ganz in der Nähe von Pescasseroli, wo meine Eltern daheim sind. Ganz ehrlich, wie ist die Pizza bianca von «Pinocchio»?

Schau, ich habe wirklich in ganz Italien hervorragende Pizze bianche und Focaccie gekostet, vor allem in Sizilien und Apulien ist die Qualität hervorragend. Aber die Pizza und übrigens auch das Brot vom «Vecchio Forno» ist wirklich aussergewöhnlich gut!

Ristorante Reale

Casadonna

Niko Romito formazione

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Blog von Niko Rominto (auf Italienisch)



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