Wie im Film

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Noch bevor ich das Training beende, überkommt mich diese Lust auf fettiges Essen. Anstatt froh zu sein, den inneren Schweinehund besiegt und Überflüssiges
rausgeschwitzt zu haben, reklamiert mein Körper lipide Hyperkompensation:
Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.

Also peile ich auf dem Heimweg die nächste Tankstelle an, um mich mit einer Familienpackung Chips einzudecken. Beim Einbiegen fällt mir an der Ecke ein junger Mann auf, dem ich spontan eine gewaltsame monetäre Hyper­kompensation zutrauen würde. 22 Uhr 15, wieso nicht. An der Shop-Kasse wartend, denke ich: «Wieso nicht?», weil wir hier mitten in einem Wohnquartier sind. Weil da draussen drei Autos an der Zapfsäule hängen. Und weil neben der Tankstelle ein Fastfood-Restaurant bis 24 Uhr junge, wachsame Menschen bedient.

Ich zahle, steige ins Auto und fahr los. Der ist ja immer noch da! Sein Baseball-Cap sitzt tief im Gesicht. Er wendet sich ab und zieht an seiner Zigarette. Ich denke mir, vielleicht ist jetzt doch Prime Time für Crime Time, setz den Wagen über die Strasse und parkiere ihn mit der Schnauze vor eine Metzgerei.

Ich mach es mir in meinem Reality-Autokino bequem, reiss die Chipstüte auf und lehne mich über den Rücksitz: In meiner Heckscheibe läuft gerade eine neue Folge «Tatort». Dort ist er. Jetzt sieh sich mal einer diesen Isnogood an! Steht nervös an der Ecke und fixiert die Tankstelle. Checkt ab und zu alle vier Himmelsrichtungen ab und lockert dabei seine Schultern, als gehe er zum 100-Meter-Lauf. Ich glaub ich träume! Was mach ich da eigentlich? «Die Polizei rufen», hör ich mich sagen. Aber was erzähle ich denen? «Sie, da will einer eine Tankstelle überfallen!». «Jaja, jetzt mal langsam. Wie heissen Sie? Von wo aus rufen Sie an?». Die nehmen einem doch so was nie im Leben ab. Dein Freund und Helfer. Nimmt jemand diesen Spruch etwa ernst? Mich nehmen die ja auch nicht ernst. Lieber ruf ich den Kerl in der Tankstelle an, er soll sich vorsehen. Vorsehen? Der nimmt mir das noch weniger ab, als die Polizei. Und die wollen sicher ein Signalement: männlich, etwa 18, 1,70 gross, 60 Kilo, Jeans, weisse Turnschuhe, weisser Sweater, weisse Baseballkappe – hab ich weiss gesagt? Okay, vergiss es! Kein Mensch kann so doof sein, weisse Sachen für einen nächtlichen Überfall zu tragen.

Das Problem ist, man hat zu viele solcher Filme gesehen. Und vom Sofa aus weiss man dann auch immer alles besser, als die Darsteller im Film. «Wieso geht der jetzt hinten rum?», denkt man sich. «Was muss der jetzt da rumschnüffeln? Ich hätt schon längst die Cops gerufen!» Hätt ich das? Die Tankstelle leert sich langsam. Noch ein Auto am Tanken. Zwei Kunden im Shop.

«Mmh, Chips. Salzig, fettig.» Genau das, was ich gebraucht habe. Das Auto fährt weg. Noch ein Kunde im Shop. Wo zum Teufel ist mein Mobiltelefon? Ich krame in meiner Sporttasche. Die Tankstelle ist jetzt leer, der ­Shop auch und mein Kopf wir es auch bald sein – stockender Blut­kreislauf! Keine Fussgänger, kein Verkehr, keine Kunden auf dem Fastfood-Parkplatz: Jetzt! Er sprintet direkt auf den Shop zu.
In einem Höllenzahn überquert er Strasse und Tankstellenplatz. Dreissig, vierzig Meter vielleicht.

Ich schmeiss meine Chipstüte weg und drück die Tasten auf meinem Telefon, «Tasten gesperrt! Freigabe mit „Freigeben“ und Taste #». Der Mann an der Kasse liest Zeitung. Jetzt schaut er auf. Der Täter (so muss man ihn nun wohl bezeichnen) kommt ihm mit grossen Schritten entgegen. Mit gestrecktem Arm, in der Hand eine Waffe. Wie im Film! Ich warte auf meine Verbindung – nichts! Ein Blick auf das Display: «111». Wie im Film! Das gibts doch gar nicht, ich habe die Auskunft statt die «117» gewählt! So doof sind nicht mal die Darsteller in B-Movies!

Der Mann an der Kasse nickt. Er öffnet die Kasse und übergibt dem Täter eine Hand voll Scheine. Der flüchtet damit. Ich schmeiss mein Telefon weg und starte den Motor. Wenn ich ihn verfolge, kann ich der Polizei mindestens brauchbare Infos per Telefon durchgeben. Er biegt rechts ein, ich folge – weg ist er!

Ich kurve minutenlang erfolglos durch die Quartierstrassen. Als ich wieder auf die Hauptstrasse vor die Tankstelle komme, stehen da zwei Streifen und zwei zivile Polizeiwagen. Der Mann vom Tankstellenshop wird befragt. Er wirkt gelassen.
War wohl nicht sein erster Überfall.

Anstatt froh zu sein, jetzt wichtige Hinweise an die Polizei liefern zu können, reklamiert mein Körper totale Entspannung: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.

Ich mach es mir in meinem Reality-Autokino bequem, greif mir die Chipstüte und lehne mich über den Rücksitz: In meiner Heckscheibe läuft gerade eine neue Folge «Kottan ermittelt».

(Illu: Patrick Widmer)


6 Kommentare zu Wie im Film

  1. Jürg am 12. November 2007 at 17:07:

    @claudio: die fetten Kartoffelsnacks wurden hervorragend missbraucht um der Leserschaft eine wirklich hochspannende Geschichte zu erzählen – 1A*****
    @widmi: super-Illu!!!

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  2. comenius am 12. November 2007 at 18:21:

    mit einem i-phone hättest du mehr optionen gehabt. direkte lokalisierung via map-search, danach direkt an die pozilei mailen.etc.
    so jack bauer like.
    also, kauf dir ein i-phone und schau, WICHTIG, dass das abo bezahlt ist.
    aber welche chips hast du denn gekauft ? das nimmt mich am zweit-meisten wunder. die fine-line mit aceto balsamico ? zweifel ? paprica ?
    war der depp (täter) zu fuss unterwegs? falls ja, dann hättest du ihn ja leicht von hinten anfahren können!
    nur eine kleine oberschenkelfraktion mit becken-verschiebung.
    esse mehr fleisch, das macht dich stark. und vorallem schneller!

    ps: machst du dich jetzt rechtlich nicht strafbar indem du die aussage gegenüber der polizei nicht gemacht hast ?

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  3. Mike Seeger am 12. November 2007 at 19:42:

    Und ich dachte immer, die Schweiz wäre gaunerfreie Zone. So kann man sich täuschen.
    Statt der Acrylamid-Plätzchen, hättest Du aber in der Metzgerei ein Stück harte Wurst kaufen können. Ist erstens gesünder, und taugt zweitens als Wurfgeschoss und Waffe zur Selbstverteidigung.
    Hast du Mettwurst, hart und prall,
    traut sich keiner´n Überfall!

    (alte deutsche Bauernregel 😉

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  4. LarsB am 12. November 2007 at 19:45:

    Die Geschichte ist ja 100 mal besser als der miese Tatort vom gestrigen Abend. Vielleicht sollte ich auch mal wieder Chips kaufen und mich des nachts vor einer Tankstelle platzieren. Am besten gleich mit einer Kamera im Anschlag – den Film kann ich dann an RTL2 verkaufen 😉

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  5. comenius am 12. November 2007 at 20:17:

    mike, ich hau mich weg 🙂

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  6. Claudio am 12. November 2007 at 21:49:

    Jungs, eure Kommentare sind der Hammer! Ich verspreche euch, noch weitere Entgleisungen aufzutischen, die sich irgendwo am Rande der Kulinarik befinden.

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