Lyon, Kulinarische Himmelfahrt
In Lyon lässt sich der kulinarische Horizont auf das Vortrefflichste erweitern. (Liebe Vegetarier, das habt ihr jetzt bitte überhört.)
Nach monatelanger Arbeit an meinem Kochbuch «Italien vegetarisch» liest sich die folgende Fleisch-Fressorgie vermutlich wie eine Kompensationshandlung nach einem Entzug. War es aber nicht. Zumindest keine geplante und schon gar keine selbst auferlegte.
Vielmehr war der Trip in die nahe und als Schlemmerparadies bekannte Stadt als Eskapade über die Auffahrts-Feiertage gedacht. Von Basel aus fährt man locker in dreieinhalb Stunden hin. Und zwar comme sur du velours wie der Franzose sagt. Also auf einer beinahe leeren Autobahn und somit total relaxed und staufrei. (Den unerschrockenen, monsterstaugeplagten Italienreisenden mein herzliches Beileid.)
Ohne gross zu planen oder zu reservieren stürzt man sich am besten in die Altstadt Vieux-Lyon. In den zahlreichen traditionellen Bouchons (hier die Bestklassierten) isst man deftig, günstig und überdurchschnittlich gut. Mit etwas Glück ergattert man einen Platz sur la terrasse und beobachtet das Treiben durch die pittoresken Gassen – ein UNSECO Weltkurturerbe – bei dem es zuweilen zugeht wie im touristenverstopften Kaysersberg.
Los geht es mit einer Assiette Gnafron, die hauptsächlich aus Kalbsfuss, Kalbsschnauze und Cervelat-Wurst besteht: Unheimlich zart und sehr geschmackvoll.
Das Haar findet sich nicht in der Suppe sondern an der Schnauze. Tut dem Genuss aber in keinster Weise einen Abbruch.
Alternativ gibt es als Menü-Vorspeise eine Salade Lyonnaise, mit kräftiger Dijonsenf-Vinaigrette, Ei und bestem, knusprig gebratenem Speck.
Wer lieber Fisch mag, wird mit exzellenten, geräucherten Heringfilets an Schalotten, Kapern, Tomaten und Kartoffeln glücklich.
Der eiskalte weisse Mâcon kommt unkompliziert in der beschlagenen Karaffe auf den Tisch.
Eine typische Lyonnaiser Spezialität ist die Quenelle au brochet. Ein luftiger Knödel, meist mit Hecht, an Krustentiersauce. Es gibt sie auch in zahlreichen Varianten.
Die lokale Schweinswurst schlechthin ist die grobe Saucisse oder Saucisson de Lyon, hier mit mit Beaujolais-Sauce und Kartoffelgratin.
Bei den Tartes muss man sich nicht entscheiden, der joviale Kellner packt einfach beide Varianten auf den Teller: Tarte au citron und tarte au chocolat. Beide geradezu perfekt.
Kein Menü ohne Käsegang. Zum Abschluss gibt es St. Marcellin und Blauschimmelkäse, der gewöhnlich (und damit für viele ungewöhnlich) mit einem kleinen Salat serviert wird . Sehr typisch wäre auch Cervelle de canut (was eigentlich Seidenweber-Hirn heisst) ein Frischkäse, der mit Kräutern, Schalotten, Olivenöl und Essig angemacht wird.
Kaum erhebt man sich vom Tisch zum Verdauungs-Spaziergang, wird man schon von dutzenden Pâtissiers mit ihren süssen Verlockungen angezogen.
Oder von Delikatessläden mit hübsch aufgereihten Köstlichkeiten eingesaugt.
Wen die Füsse tragen, kann sich in der Altstadt durch die Traboules oder hoch zur Basilika Notre-Dame de Fourvière schlängeln.
Wer Aufstieg hingegen eher mit elegantem Schuhwerk assoziiert, der schlendert zu Fuss zur Place Bellecour an die guten Adressen für die ausgefallenen und schönen Dinge. (Ladies, die Crystal Mermaid Peep-Toe-Sandalen unter der Cloche sind von Sergio Rossi und für 1290 Euro zu haben. Die Monk Straps in weisser Snake-Optik für mich waren leider ohne Preisangabe und der Laden bereits geschlossen)
So oder so, der wachsende Appetit will gestillt werden. Statt mit einem selten guten Steak frites, mal mit einem eher selten servierten Filet à l’Os. Einem am Knochen gebratenen Filet (400 g) vom AOC Maine-Anjou-Rind aus der Loire. Impéccable. Franzosen können Fleisch. Keine Frage.
Tags darauf geht es an eindrücklichen Wohnkomplexen aus dem emblematischen Urbanismus der Sechzigerjahre vorbei zu den Halles de Lyon Paul Bocuse.
Aussen eher nüchtern, im Look eines Kongresszentrums, geht es im Innern kompromisslos ans Eingemachte. Schlicht das Beste vom Besten ist hier an Lebensmitteln und Produkten zu haben.
Aber das Beste: Zwischen all den Verkaufsflächen gibt es eine grosse Auswahl an Degustations-Theken, an denen sofort probiert werden kann, wie auch einige kleine Bistrots, die ganze Menüs anbieten oder eine reichhaltige Tageskarte führen.
Wir setzen uns zu Malartre und geniessen die besten Schnecken, die uns jemals untergekrochen kamen.
Unter diesem Craquant du Chef verbirgt sich ein Schafs-Crottin umwickelt mit Speck. Allein davon wäre man eigentlich satt geworden. Ah, ja. Was wir wirklich satt haben, ist das doofe Balsamico-Creme-Geschluder auf den Tellern. So unnötig und so was von zu oft in Lyon gesehen.
Auch beim Fisch hat man es gerne deftig. Ventrèche ist das besonders fettige Bauchfleisch vom Thunfisch. Hier auf Ratatouille serviert.
Eine Klasse für sich sind die hausgemachten Quenelles au Brochet. Kunststück, setzt sich das Malartre als Mantra auf seine Werbeplakate: «Quenelles der Maison Malartre, Quenelles ohne Nachgeschmack.»
Kein Lyon-Besuch ist vollkommen, ohne eine traditionelle Andouillette mindestens probiert zu haben. Die Wurst birgt in der Speiseröhre (vom Schwein oder Kalb) deftig gewürzte Eingeweide (Kutteln vom Kalb). Meist an einer unverschämt guten Senfsauce. Und bei Malartre serviert mit einem Kardonen-Gratin (juhuu, das Rezept dazu – also zu diesem artischocken-artigen Gemüse! – gibts auch in «Italien vegetarisch»).
Die Andouillette ist starker Tobak. Muss ich zugeben. Obwohl sehr gut zubereitet, ausgewogen gewürzt und sehr zart im Biss erinnert mich der penetrante Geschmack ganz genau an etwas Bestimmtes: Den Geruch, der an schwülen Sommertagen aus dem Keller der Dorf-Metzgerei über die Lüftung auf die Strasse drang. Süssliche Verwesung. Mit einem Hauch Harn.
Nach der Hälfte (und das dürften gut und gerne 250 g gewesen sein) habe ich kapituliert.
Gegenüber kann man sich danach mit Süssem trösten oder – eine sehr tolle Idee! – sich eine kleine Portion frischen Fruchtsalat zubereiten lassen.
Die Brasserie Georges ist seit 1836 eine Institution in Lyon. Auch hier gilt, finde ich: Muss man mindestens einmal erlebt haben. Die Art Deco-Speisehalle ist bestenfalls beeindruckend und die über 500 Plätze Respekt einflössend. Vermutlich werden hier pro Service nicht selten 2000 Essen rausgehauen. Und das mit der Präzision eines Chronometers.
Auf der Karte stehen typische Brasserie-Gerichte in handgehämmerter Qualität und es gibt richtig gutes Bier aus der hauseigenen Brauerei.
Über die generöse Portion gratinierter Markbeine zur Vorspeise habe ich mich sehr gefreut.
Andere Vorspeise: Ein grosszügiger Topf Pui-Linsen ohne Schnickschnack.
Trotz dem hektischen Treiben der Kellnerbrigade, das an diesem Abend mindestens fünf mal durch Lichterlöschen, Tusch und effektvolles Durch-die-Ränge-Zirkeln von Wunderkerzen auf Torten zum Geburtstagstisch unterbrochen wurde, bleibt das Auge immer wieder an schönen Details hängen.
Zur Hauptspeise schmeckte eine Ente Rossini schlicht perfekt. Brust rosa auf den Punkt gebraten. Keule butterweich geschmort und die frische Foie Gras auf die Sekunde genau gebraten. Von einem Koch, der vermutlich die letzten 20 Jahre nichts anderes gemacht hat. Der Jus dazu von Grund auf hausgemacht und mit dem Drehmoment eines 12-Zylinders. Kracher!
Traurig, dass man das heute explizit erwähnen muss, aber alle vier bestellten Gerichte kamen jeweils zeitgleich und in der richtigen Temperatur auf den Tisch. Eine Bierbestellung zwischendurch, Ketchup für den Junior – wird einem alles von den Lippen abgelesen und im Handumdrehen serviert.
Nur so nebenbei: Beim tollen Filet à l’Os, das ich weiter oben beschrieben habe, meinte die Kellnerin beim Servieren: «Tut mir leid, aber Béarnaise ist leider aus.» Beim Servieren!
Dessert war auch der Hammer: Crêpes Norvégienne (ab 2 Personen im Voraus zu ordern) werden am Tisch flambiert und serviert. Eine Nachspeise wie zur Zeit der Titanic. Innen Vanilleeis mit kandierten Früchten, aussen weiches, karamellisiertes Baiser.
Bye, bye, Lyon. War schön mit dir. A la prochaine!
Kulinarische Streifzüge mit dir machen IMMER Spaß, aber Lyon heute hat mir besondere Freude bereitet. Und deine Formulierungen… *Eine Nachspeise wie zur Zeit der Titanic*. Schön gesagt. Um Andouillette mache ich einen großen Bogen – das geht überhaupt nicht! Allein beim Gedanken daran schüttelt es mich!
-Ach, und wer so schwärmt, der kann auch weiße Schlangenlederschuhe tragen! Sehr gut sogar!
Erst wollte ich aufzählen, was mich besonders begeistert hat. Geht nun aber nicht mehr. Einfach alles war toll – bis hin zur Andouilette, die ich allerdings, wenn ich sie hier bei Lafayette erstehe, auch nur zur Hälfte schaffe. Und wenn es nicht noch so früh wäre, würde ich sofort ein paar Markknochen rösten. Tausend Dank für diesen herrlichen Trip.
-Ahhh! Da hat sich das scrollen bis zum Ende aber gelohnt! Das Auto meiner Kinderjahre. Rein ins Cabrio, ab ins Freibad mit der Mama… Das waren Zeiten. Wir hatten den in einem tollem Grünton.
-Alles hat mich hier begeistert. Lyon ist immer eine Reise wert. Leider habe ich jetzt allein vom lesen 2 Kg mehr auf den Hüften.
Einen Auenblick habe ich gedacht „Les Carnets de Julie“ hätten auf deinem Blog vorbei geschaut.
Dankeschön für diese tolle kulinarische Reise.
Genießer Grüße aus meiner Küche
-Was für eine Schlemmerreise! Ich mache bei (fast) allem gerne mit, aber Andouillette geht leider nicht, auch keine halbe Portion. Wir haben das probiert, mussten dann aber dankend auf das Alternativ Programm wechseln.
-Wie Micha schreibt – geht gar nicht 🙂
Liebe Grüsse aus Zürich,
Andy
geile siech….
-Danke, Micha, ich überlege es mir echt zweimal, ob ich jemals wieder eine Andouillette bestelle. Immerhin die Hälfte, Thea, das ist eigentlich noch eine gute Strategie 😉 Ist mir erst jetzt aufgefallen, Patrick, der Peugeot hat ja das Wahrzeichen Lyons als Markenemblem! Ja, Marlies, über mangelnde Kalorienzufuhr kann man sich bei dem Essen nicht beklagen. Aber immerhin probiert, Andy, Respekt. Ja, scho, Christian 😉
-Geht das? Du und Frankreich?
-Na klar, Claus, muss doch schauen, wie die Gallier sich kulinarisch entwickelt haben, seit die Medici ihnen das Kochen beigebracht hat 😉
-Hey, toller Artikel, ich wollte nächstes Jahr nach Lyon. Meine Freundin hat ähnliches wie du berichtet! Toller Blog! LG Andi
-Wäre ich die bezaubernde Jeannie – ich wüsst` wohin ich mich beamen würde!!! Wenn ich nur dieses wunderbare Fleisch am Knochen sehe….
-Beste Grüße, Lo
Schön geschrieben und sehr schöne Fotos. Vielen Dank dafür! Da möchte man sich gleich nach Lyon aufmachen – oder wenigstens einen Salade Lyonnaise essen! LG Thoralf
-Da läuft einem beim Lesen richtig das Wasser im Munde zusammen. Sehr schön geschrieben und sehr schöne Fotos.
-Mensch, in Lyon verfahre ich mich immer nur. Nun habe ich endlich mal eine Grund wuer durch die Stadt zu fahren und auch mal anzuhalten. Danke dafür.
-Ein riesengrosses Dankeschön für diesen mundwässernden Bericht über Lyon – traumhafte Fotos, herrlich, unnachahmlich in der dir eigenen Art geschrieben.
Begeisterte Grüsse aus dem Elsass von Sabine
p.s. Bei der Karaffe, in der euer Mâcon serviert wurde, handelt es sich übrigens um eine Besonderheit von Lyon: ‚Un Pot Lyonnais‘, eine Flasche aus besonders dickem Glasboden mit exakt 0,46 cl Inhalt, die die Kühle des Weins besonders lange bewahren soll. Daher wird auch der Weisswein nicht in einem Kühler serviert.
-Danke, Sabine. Der Pot Lyonnais ist wirklich besonders schön. Beste Grüsse ins Elsass, dass eigentlich auch wieder mal besucht werden müsste!
-Bin zufällig auf diesen wunderschönen Artikel gestossen. Habe darauf sofort eine Reise nach Lyon gebucht. Herzlichen Dank und den Blog werde ich regelmässig lesen. Was für eine Bereicherung!!!
-Klasse Fotos!! Da bekommt man richtig Hunger 😉
-So, wir haben es getan und sind auf deinen Spuren gewandelt 😉 Wenn du magst, kannst du ja gerne mal bei mir vorbeischauen, der erste Teil ist bereits verbloggt – Fortsetzung folgt.
-[…] ihr euch noch an meine Kulinarische Himmelfahrt 2014 nach Lyon? Da schwärmte ich von so manchem traditionellen Gericht. Und die Quenelles von […]
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