Zurueck zu den Wurzeln

Marktwagen

«Ich kenne Sie», sagt der Gemüsehändler. Greift eine Karotte und streckt sie mir entgegen. Seine Linke lässt er einen Meter über dem Boden schweben: «Der kam schon als 5-jähriger Knopf zu mir», klärt er einen Kunden auf und begrüsst mich mit festem Händedruck.

Was für ein Flashback. 37 Jahre hat er jetzt in seinem fotografischen Gedächtnis zurückgeblättert. Und ja, immer wenn meine Mutter mit mir samstags beim elsässischen Marktfahrer im Quartier einkaufte, bekam ich das obligate Rüebli geschenkt. Ich hab es jeweils sofort mit Haut und Haaren abgenagt: Zuerst rundherum und dann – als Dessert quasi – den freigeraspelten, süsslichen Kern.

Rueben und Karotten

Er ist immer noch der nette knollige Kerl. Was ihm fehlt sind die überlangen, rabenschwarzen Kotletten und der speckige schwarze Lederhut zum blauen Schurz. Jetzt wird sein Styling vom konformen, Mephisto-beschuhten Rentnerlook diktiert.

Heute habe ich ihn besucht. Musste wissen, ob es ihn noch gibt – ihn und seinen Hanomag-Henschel-Lader, der etwa denselben Jahrgang haben dürfte wie ich. Leider ist seine treuste Begleitung nicht da: Seine Frau. Sie hat sich die Schulter ausgekugelt. «Hat jetzt drei Wochen Ferien. Das darf ich aber nicht laut sagen, sonst bekomm ich eins aufs Dach! Sind ja keine richtigen Ferien, haha!»

Die beiden rotwangigen Marktleutchen würden mit ihrer strotzenden Robustheit und ihrer gesunden Liebenswürdigkeit in jede Märchengeschichte passen. Sie wären «die Guten». Die Hilfsbereiten, dank derer der Held geradenochmal davon kommt.

Jemand fragt, wie gehts? «Nicht gut, gar nicht gut. Dieses Jahr habe ich ganz schlecht angefangen: Ich bin nämlich 70 geworden. Dabei wäre ich doch lieber 60 geworden!» Dann lacht er sich halb kaputt. Das ist sein Markenzeichen. Witze machen und alle mit seinem Lachen anstecken.

«Ha-joo, ist doch wahr! Was soll ich mich lamentieren? Natürlich habe ich auch meine Wehwehchen. Aber es gibt genug Leute, die nur von ihren Problemen erzählen, da brauche ich nicht auch noch mitsingen.»

Viele Witze macht er über sich selbst. Seine Stammkunden frotzelt er auch mal an, oder er greift auf seinen antiken Witzfundus zurück. Am liebsten aber macht er schlüpfrige Witze. Wie die meisten Obst- und Gemüseverkäufer eigentlich. Schon mal aufgefallen? Liegt wohl an den inspirierenden Formen der Gewächse.

Seit 46 Jahren kommt er aus Village-Neuf, oder Neuwiller, wie der Elsässer sagt, nach Basel und stellt seinen Marktwagen vor die Heiliggeist-Kirche. Das erste mal kam er vor 60 Jahren mit seiner Mutter hierher. Allerdings weiter oben, da wo später der Migros eröffnet wurde.

Etwas über ihn schreiben? Ja, soweit kommts noch! Nein, das will er nicht. Da gibt es erstens nicht viel zu sagen. Einmal kam der Chefredaktor von der Gundeldinger-Chronik, den kennt er gut. Wollte ein Interview machen. Da hat er ihn ausgelacht: «Du bist ja verrückt, ein Interview mit mir, wer will denn so was lesen?». Das sei aber gute Reklame für ihn. «Ich brauch doch keine Reklame! habe ich dann gesagt.»

Ausserdem wolle er nix wissen von Vergangenheit. Alles passé. Alles Blödsinn. Bringt doch gar nichts. «Zeigen Sie mir bloss nicht, was Sie schreiben!» Hat er mir jetzt gerade grünes Licht gegeben? «Wissen Sie, mein Vater war ja ein Berner. „Es isch gäng eso“, hat er immer gesagt.»

«Der Vater hat mich viel geschlagen – oh je!» Seine Mutter aber habe ihn geliebt. Er war halt auch der Kleinste. «Ich war so klein, meine Mutter hat immer gesagt, den müssen wir in den Zirkus schicken – sicher! – das hat sie gesagt. Im Zirkus nehmen sie so kleine Leute.»

Nein, als er grösser wurde, sei schon noch etwas aus ihm geworden. Fallschirmjäger sogar, Algerienkrieg. Hat manchem Algerier das Leben gerettet, ehrlich jetzt. Algerien ist ja abgesehen vom schmalen Saum der Mittelmeerküste ziemlich gebirgig. Die Kämpfer versteckten sich zwischen ihren Ziegen in den Berghöhlen. Nach dem Rekognoszieren meldete er dann: «Il n‘y a rien à signaler, mon capitaine!» So hat er das gegenseitige Gemetzel vermieden. «Weisch wie!»

Die Zeit sei an ihm vorbei gezogen. «Das merkst du gar nicht, wenn du Woche für Woche „z‘ Märt“ gehst.» Heute hat ihm seine Frau Brot und Schoggi mitgegeben. Einen Thermos voller Kaffee hat er sowieso immer dabei. «Jä, so du!»

Thermosflasche

Ich kaufe etwas Wintergemüse ein: Sellerie, Lauch. Randen hat er auch gekochte, er schält eine: «Probieren Sie mal, schmeckt die nicht wunderbar?» Recht hat er, da braucht es weder Salz noch sonst was. «Dann brauche ich noch mehligkochende Kartoffeln, für Gnocchi.» Die hat er aber nicht. «Gibts immer seltener, wissen Sie. Die Leute wollen festkochende. Härdöpfelstock macht ja heute fast niemand mehr selbst.» Aber diese hier, die Marbella, seien auch gut für Gnocchi. Viele Italiener kaufen die bei ihm. «Nehmen Sie immer grosse Kartoffeln für Gnocchi. In den kleinen konzentriert sich zu viel Stärke.»

Stimmt, die Gnocchi die ich damit gemacht habe, waren die besten seit langem. «Das beste Aroma haben Kartoffeln im Oktober, herrlich! Im Frühjahr werden sie zu süss, wenn sie spriessen. Die Leute meinen ja immer, nur schlechte Kartoffeln würden Auswüchse bekommen. Das stimmt eben nicht. Zum essen sind sie zwar nicht mehr gut, aber es zeigt, dass es eine gute Kartoffel war!»

Lauch

Nein, schlecht hat er es nicht gemacht im Leben, als «Gmiesbüür». Hat gut verdient. Auch wenn das viele Leute neidisch macht. Sogar die eigene Verwandtschaft. Ganz schlimm. Immerhin, alle seine drei Söhne sind etwas geworden. Obwohl er doch nie viel Zeit hatte für sie. Sind zum Glück keine «Dottel», haben studiert. Die Landwirtschaft hat sie allerdings nie gross interessiert. Aber einen kleinen Gemüsegarten hat trotzdem jeder von ihnen!

Seine Kunden sind sein Publikum, der Gemüsestand rund um den Marktwagen seine Bühne. Er kennt die Leute seit Jahrzehnten, ihre Geschichten und Schicksale. Aber er wechselt nicht nur Worte. Er schenkt ihnen auch seine Zeit und muntert auf. Dafür heimst er schon mal da und dort ein Küsschen von den Damen ein.

Laderampe

Und er liest seine Kunden, wie es im Buche steht. Ein älterer Herr steht etwas rat- und wortlos vor der Kiste mit dem Blumenkohl. «Möchten Sie den Blumenkohl?» – Schulterzucken. «Ich schneid ihn auch gerne in die Hälfte, wenn Sie möchten, kein Problem.» – Erleichterung. Wo gibts denn heute noch so was?

Sein Lieblingsessen, keine Frage, sind Kartoffeln. In jeder erdenklichen Form. Aber eigentlich isst er alles gerne. Gut, auf Teigwaren ist er nicht besonders scharf. Aber er isst sie. Reis? Nicht seine Kragenweite, aber wenn seine Frau kocht, wird nicht gemurrt. Er isst einfach alles.

«Haben Sie einen Sack, ich habe meine Einkaufstasche vergessen?» «Jaja, ich habe mehr Säcke als Kunden, haha ha!»

Die letzte Geste liebe ich besonders: Die Peterli-Zugabe. Egal wer wie viel gekauft hat, am Schluss packt er immer einen Büschel Kräuter, eine Knoblauchknolle oder ein Ei dazu. Damit entlockt er seinen Kunden nochmals ein verlegenes Lächeln, und dann verabschiedet man  sich mit den besten Wünschen – bis nächsten Samstag.


14 Kommentare zu Zurueck zu den Wurzeln

  1. jürg am 25. März 2009 at 17:02:

    danke claudio!
    einfach toll geschrieben, ich liebe diese geschichte, bin ich doch auch im quartier aufgewachsen.
    eine kleine anmerkung bzw. korrektur habe ich jedoch: früher hatte er – wie alle händler und handwerker in den 60er und 70er jahren – einen blauen vw-bully T1.
    merci für die zeitreise . . .

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  2. peppinella am 25. März 2009 at 17:27:

    mal ganz abgesehen von der wirklich schönen geschichte (der marktbeschicker ist so ganz nach meinem geschmack), will ich dir sagen: ich esse rüebli noch heute so. den kern zum schluss.:-)

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  3. Zoolicious am 25. März 2009 at 17:28:

    Super, Claudio!
    Bei den schlüpfrigen Witzen kann ich nur beipflichten, ich hab‘ selber mal als Handlanger bei einem Gemüsehändler gearbeitet, während der Schulzeit musste ja Geld her.
    Ich kann mich auch an einen Plastikphallus in Form einer vibrierenden Gurke erinnern, den er stets griffbereit aufbewahrte und erschütterten älteren Damen vor die Nase hielt. 😀
    Aber auch der Service – für mich war das kein Zuckerschlecken. Ich sage nur „wir schälen Ihren Spargel umsonst“. Na, wenigstens hab‘ ich das Spargelschälen besser als jeder Sternekoch drauf. 😀
    Ich versuche so oft wie möglich, noch zu meinem ehemaligen Chef zu gehen und einzukaufen. Auch wegen der Qualität der Produkte.

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  4. Claudio am 26. März 2009 at 08:15:

    El VW Bulli? An den kann ich mich gar nicht erinnern, Jürg. Ich muss wohl mehr Knoblauch essen. Wars nicht ein gerippter Citroen Typ H? Ich hätte auch das mit dem Rüebliabknabbern vergessen, peppinella, wäre da nicht mein Sohn gewesen, der es letzte Woche genau so gegessen hat: Vererbung! Plastikphallus, Zoolicious, starkes Stück! Aber es wundert mich nicht. Ich hab schon Gemüsegigolos gesehen, die, mit einer Banane munitioniert, Politessen in aller Öffentlichkeit drangsalierten, bis diese Reissaus nehmen mussten.

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  5. Number 22 and abeer am 26. März 2009 at 14:16:

    Es ist immer wieder eine Freude deine Sachen zu lesen, Claudio.

    Vor unserer Haustür ist 2 mal in der Woche Markt (wie auch heute), am Gemüsestand sind wir dann immer, holen dort auch Futter für die Kaninchen meiner Kinder. Ich frage mich ob mein 4-jähriger noch genauso zurückdenken wird wenn er unser Alter erreicht hat. Ich hoffe es für ihn und für mich.

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  6. Mike Seeger am 26. März 2009 at 19:14:

    Sehr schöne Geschichte, Claudio. Für jemanden, der mit Obst und Gemüse aufgewachsen ist, und sogar selbst einmal in jungen Jahren ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft führte, kommt Wehmut auf, nach der schönen alten Zeit, als eine Tomate nach Tomate schmeckte, ein Golden Delicious noch honigsüß und saftig war und ein unvergleichliches Aroma hatte (die aus dem Nonstal in Südtirol waren die besten!). Als neunjähriger habe ich mir damals an der Packmaschine (eine der ersten damals) ein wenig Taschengeld verdient, indem ich Früchte aussortierte, während die Maschine sie in Netze packte. Orangen (auch Blutorangen), Zitronen und Clementinen.

    @ Zoolicious: 5 kg in 15 Minuten? War mal mein „Rekord“.

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  7. katha am 26. März 2009 at 21:11:

    und noch eine, die die karotten so am liebsten gegessen hat. habe ich lange nicht mehr gemacht. die kleinen stachelchen am kern, die haben ihn dann aussehen lassen wie einen von seinen ästen befreiten christbaum, nicht wahr? schöne geschichte!

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  8. patrick am 27. März 2009 at 14:41:

    einfach schön!

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  9. Claudio am 27. März 2009 at 17:07:

    Bestimmt, Oliver, du bist auf dem besten Weg dazu! Was da alles wieder zu Tage geführt wird, Mike, immerhin bist du mit deinen Olivenölen immer noch von Spitzenprodukten umgeben. Stimmt, Katha, die Stachelchen! Grazie, Patty, irgendwann erzähl ich auch mal von der gestrandeten Brasilien-Auswandererin im trunken Elend vor dem Döner nachts um 3, was meinsch?

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  10. Zoolicious am 27. März 2009 at 17:21:

    Mike, irgendwann hab‘ ich aufgehört mitzuzählen.
    Deine Marke klingt aber nach einer ganzen Menge Holz, ich bezweifle, dass ich da mithalten kann. Mein Spargel war dafür länger und dicker. 😀

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  11. Thea am 30. März 2009 at 14:20:

    Sooo eine schöne Liebesgeschichte ;-)) Ich bin gleich aufgesprungen und habe mir eine Karotte aus der Küche geholt. In windeseile hat das Eichhörnchen in erwähnter Manier kreisgeknabbert. Chapeau für diese Reminiszenz.

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  12. zorra am 31. März 2009 at 17:48:

    Schöne Bilder mit einer noch schöneren Geschichte dazu.

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  13. Herr Paulsen am 2. April 2009 at 07:02:

    Ein wunderbares Lesestück, vielen Dank!

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  14. Anonyme Köche » Blog Archive » Pret A Manger am 9. November 2009 at 02:13:

    […] Samstag hatte ich bei meinem liebsten Elsässer Gmiesmaa einen Rotkohl gekauft. Und beim Metzger ein kleines Schüüfeli ergattert. Eine gepökelte […]

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