Und der Sprecher geht leer aus.

Spätestens bei der Fanfare des «Tiggi uno» sind alle Dorfbewohner in ihren Häusern. Die Italiener sprechen immer von ihrem Haus. «Casa», Haus, Heim, Zuhause. Auch wenn ein Dorfbewohner faktisch in einer Wohnung wohnt: Casa. Niemand sagt «Appartamento». Ausser wer in einem «Palazzo» in der Vorstadt wohnt. Was kein Palast ist, sondern ein grosses Wohnhaus mit vielen Wohnungen.

Das orchestrale Intro des «TG1 delle 20», der Hauptnachrichtensendung des italienischen Hauptfernsehsenders «Rai uno» bläst seit 1952 – über die Jahre immer wieder leicht variiert – alle von der Piazza. Sie ist das Signal, bei welchem sich halb Italien gesetzt am Esstisch befindet.

Davor befinden sich alle auf der Piazza.

Die Kinder, die auf der Piazza Fussball spielen. Die Männer, die vor der Bar über Fussball reden. Die Ragazzi, die mit ihren Rollern rumröhren. Die Ragazze, die in ihren Röhrenhosen, ihre Augen rollen. Und die Alten, die über die Kinder ihrer Kinder und ihre eigene Kindheit reden.

Danach befindet sich niemand auf der Piazza.

Die Mütter? Die sind um diese Zeit nicht auf der Piazza. Die machen Abendessen. Ausser, es sind Mütter, deren Mütter das Abendessen alleine zubereiten und zu ihrer Tochter sagen: «Lass nur. Ich mach das. Geh du ruhig auf die Piazza und schau mal, wer alles so da ist». Aber die gibts nicht.

Denn eine ältere Mutter erwartet von der jüngeren Mutter und Tochter, dass sie ihr beim vorbereiten des Abendessens zuschaut. Hilfe kann sie nicht gebrauchen. Das würde nur den Lauf der eingeschliffenen Handgriffe stören.

Aber anwesend sein ist wichtig. Assistieren. Also, Anweisungen ausführen. Alle Versuche der jüngeren Mutter, diese Hackordnung in Frage zu stellen, enden zwangsläufig in einer theatralischen «Commedia». Und die wird laut ausgetragen. Sehr laut. Beim Abendessen ist es dann dafür sehr still.

Ausser der Stimme, die fortwährend spricht: Der Nachrichtensprecher des TG1.

Es gibt natürlich auch die Familien, bei denen irgendwie alle allen helfen und in der Küche umherwuseln und Essen auffahren als gäbe es kein morgen.

Und auch in dieses Gewusel und Geschnatter mischt sich die ernste Stimme des Nachrichtensprechers des TG1.

Von aussen kann man das alles hören. Und es sich durch das weiche Licht der Vorhänge und Fensterläden ausmalen. In den friedlichen, gepflasterten Gassen die cadmiumgelb leuchten.

Dann mischen sich gläserne und klappernde Tischgeräusche mit den Stimmen der Bewohner, der Nachrichtensprecher, der Korrespondenten, der Politiker, der Journalistinnen.

Und man schnuppert sich durch die Winkel des Dorfes uns atmet diesen unglaublichen Reichtum an Aromen und Düften. Es riecht nach Feuerholz. Harz. Rauch. Nach gebratenem Fleisch. Es ist Lamm. Es ist geschmortes Rind.

Bohnensuppe. Hefe. Keller. Rosmarin. Verdampfender Weisswein. Knoblauch. Zwiebel. Tomatensauce. Brot. Pizza. Basilikum. Milch.

Vornamen werden rüde geblafft. Der Nachrichtensprecher zappt mitten im Satz zur Werbestimme, zur Moderatorin, zum Schauspieler, zur Sängerin, zu kreischenden Teenies und dann gehen die Stimmen im rhythmischen Wechsel zurück zum Nachrichtensprecher, der einen Fussballspieler zitiert.

Dann bellen dunkle Männerstimmen. Helle Kinderstimmen brüllen los. Harsche Frauenstimmen rügen und werden sogleich samtig weich und trösten.

Katzen springen einem aus dem Nichts vor die Beine und umschmeicheln sie. Verschwinden in einer dunklen Ecke. Der Hall einer Vespa von irgendwoher wird von den alten, steinernen, barocken Fassaden zurückgeworfen.

Und man ist immer noch hier. Und möchte nirgendwo anders sein. Ausser an all diesen Tischen, in all diesen Häusern, mit all diesen Leuten und all ihre Töpfe inspizieren und alles riechen und kosten.

Während der Nachrichtensprecher leer ausgeht.



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