Geschmacksbildung

Holzmodell eines perfekten Sandwichs – nach der Vorstellung und Fingerfertigkeit meines sechsjährigen Sohnes (v.u.n.o.: Brot, Salami, Schinken, Brot, Tomate, Brot)

Mein jüngerer Sohn (6) hat sich auf dem Robinson-Spielplatz künstlerisch mit Essen auseinandergesetzt. Als Abwechslung zu den üblichen Holz-Schiffchen und -Schwertern, hat er sich aus eigenen Stücken ein Holz-Sandwich gebaut. Er ist ganz zufrieden mit seinem Prototyp. Sein Papa dagegen würde ihn am liebsten auffressen vor Freude!

Mein älterer Sohn (10) hat sich ebenfalls der Kunst gewidmet: Der Kunst, schlechtem Essen auszuweichen und dabei trotzdem nicht zu verhungern. Er besuchte eines der Sportcamps (Racketsport), die das Kantonale Sportamt während den Schulferien jeweils ausschreibt. Mit dem Essen war er nicht ganz zufrieden. Sein Papa dagegen könnte sich vor Wut in den Hintern beissen!

Der Grund dafür ist dieser ausgewogene, appetitanregende Speiseplan, den Papa Staat in Absprache mit dem Sport-Center aufgetischt hat:

Tag 1

1 Wienerli (2. auf Wunsch), Chips (Salz und Paprika), Gurkensalat
Dessert: Mohrenkopf

Tag 2

Penne, Tomatensauce (separat)
Dessert: Glacé (Migros-Lutscher)

Tag 3

Büchsen-Ravioli (sic!), Gurkensalat
Dessert: Glacé (Frisco Cornet)

Tag 4

Klöpfer-Würfeli an Bratensauce, Reis, Gurkensalat
Dessert: Glacé (Migros-Lutscher)

Tag 5

Abschlussessen, Kinder bestellen am Vortag (!)
Weisses Toastbrot-Sandwich mit a) Salami oder b) Käse
Dessert: Glacé (Migros-Lutscher)

Immer: Brot. Nie: Gemüse, Blattsalat, Früchte, Getreideriegel.

Gespielt, gerannt und geschwitzt wurde jeweils von 10 bis 15 Uhr. Gute Zeiten für den Veranstalter, schlechte Zeiten für Kindern mit gesundem Appetit. Znüni und Zvieri fallen weg. Man kann sich also voll auf die Zubereitung des Mittagessens konzentrieren und somit auch aus dem Vollen schöpfen.

Ich verkneife mir (vorerst) Kommentare. Ich habe nämlich eine Zwischenfrage: Kann jemand nachvollziehen, dass ich vor Entrüstung eine leichte Gereiztheit im Magen verspüre?

Die zweite Frage ist: Mit welchem Vorbild versucht man hier hungrige, junge Sportler zu nähren? «Mister Perfect» ist für einmal wohl kaum Pate gestaden?

Da liest man täglich von Gesundheitsförderungsprogrammen und Präventionskampagnen. Gegen dramatisch steigendes Übergewicht bei Kindern. Für die dringende Rettung der Esskultur im Lande. Nimmt leer schluckend die Summen Steuergelder, die diese Massnahmen verschlingen zur Kenntnis und fragt sich: Sind das wirklich eure besten Rezepte?

Man muss sich ja von gut bezahlten Gutmenschen von Amtes wegen einiges unter die Nase reiben lassen. Wie man zu essen, zu leben und zu erziehen habe. Man wird erstaunlich schnell satt davon, aber gegessen hat man nicht.

Wirklich ungeniessbar ist aber die Tatsache, dass zunehmend Kinder einem immer grösseren Weltverbesserer-Druck ausgesetzt sind. Sie sollen die Beautiful Minds in den Perfect Bodies werden und alles besser machen, was die Vorbilder dieser Welt auf Schritt und Tritt verbocken und verbrechen.

Ja, selbstverständlich bin ich hingegangen. Natürlich bin ich hin. Ohne gerhard-rumzupoltern zwar, aber ich wollte den Organisatoren schon auf den Zahn fühlen.

Die Antworten, die ich bekommen habe, sind allerdings das Allerbitterste: «Die Kinder lieben das Essen! Seit Jahren sind die Sportwochen ausgebucht und auch deshalb ein so grosser Erfolg, weil den Teilnehmern das Essen so gut schmeckt.»

Mein Gott, was essen die denn DAHEIM, wenn sie DAS HIER gut finden!

«Erstens: Wir wollen keinen Essterror machen oder die Kinder in ihrem Essverhalten umerziehen. Hier kommt alles kindergerecht auf den Tisch: keine Kräuter, keine zu starken Gewürze, Saucen immer separat.» Unkompliziert soll es sein, heisst es. Etwas Süsses nach dem Essen sei den Kindern fast wichtiger, als ein ausgefeiltes Menü.

Ich bekomme Bewertungsschreiben vorgelegt, die am Ende der Woche jeweils anonym von den Kindern ausgefüllt werden (man ist ja dem Sportamt gegenüber verpflichtet …): «Essen super!», «Das Essen fand ich immer besonders toll.», «Komme nächstes Jahr wieder, das Essen war sooo gut.»

Er zählt alle aktuellen Bogen durch – ein einziger von 22 schreibt: «Das Essen fand ich nicht so gut. Aber gegessen habe ich es trotzdem.» (Ich und die Leser dieses Blogs wissen, wer das geschrieben hat!)

«Hier essen die Kinder sogar Dinge, die sie zuhause nie essen würden: Büchsen-Ravioli zum Beispiel. Oder wir hatten einen Moslem. Der darf ja kein Schweinefleisch essen. Aber die Wienerli hatte er am liebsten. Wir mussten allerdings versprechen, es nicht seiner Mutter zu verraten.»

«Früchte, Salat, gekochtes Gemüse. Haben wir alles schon versucht. Haben sie immer stehen gelassen. Nein, nein. So wie wir das machen, ist das schon gut.»

Ich gebe zu, das fühlt sich für mich an wie eine Totalkapitulation. Aber irgendetwas sagt mir, dass nicht ich kapituliert habe.

Ausführung eines perfekten Sandwichs – nach der Vorliebe und Fingerfertigkeit meines sechsjährigen Sohnes (Butter-Silserli, Kopfsalat, Gurken-Tomate-Spiess).


17 Kommentare zu Geschmacksbildung

  1. Tommi am 14. September 2009 at 06:06:

    Hallo Claudio,
    jawohl, eine Kapitulation ist das. Eigentich werden Kinder nur auf die Welt geholt weil man das so macht. Wenn sie da sind sind sie nur lästig. Also gibt man ihnen lieber was sie wollen, dann hat man seine Ruhe. Gleichzeitig erwarten wir, dass sie alles noch besser machen als wir. Eben Beautiful minds in perfect bodies. Bitte bitte mach weiter so, mit Deinem Blog. Ohne ihn könnte ich nicht mehr leben. 😉 Inspiration, Menschlichkeit und Niveau – das ist Anonyme Köche.
    Gruß Tommi

    -
  2. katha am 14. September 2009 at 08:35:

    ich hab‘ ja keine kinder, aber bei tag 1 bis 5 kriege ich mit dir magenweh. und bin ob der antworten der veranstalter auch ratlos. aber warum soll’s beim essen so viel anders sein als im restlichen alltag? wer grüsst die nachbarn? wer sortiert den müll richtig? wer hebt was auf, wenn’s runterfällt? wer schaut drauf, dass lebensmittel verarbeitet statt weggeschmissen werden? wer hilft wem anderen aus freien stücken? wer liest qualitätsmedien statt fernzuschaun? wer fährt konsequent mit dem rad statt mit dem auto? wer wählt zukunftsorientierte parteien mit weitblick statt ewiggestrige? eben. es ist nicht die mehrheit. das muss man aushalten können, wenn man weiter als über den sandwichrand schaut und denkt. vorleben ist immer besser als vorschreiben (und damit meine ich nicht meinen job, sondern den erhobenen zeigefinger), und ersteres tust du doch.

    -
  3. Gabor am 14. September 2009 at 08:44:

    Schlimm!

    Da klage ich über die nicht vorhandene Esskultur der Gegend hier östlich von Wien und stelle fest, dass dieses Geschwür längst bis zu uns weitergewuchert ist. Zum Kotzen!

    Besonders bei den Worten „Gesundheitsförderung“ und „Prävention“ kommt einem da echt die Galle hoch. Ich denk da an einen Freund von mir, der bereits seit Jahren erzählt, wie die Sportstunden seit Jahren immer mehr zusammengestrichen werden, während in der Öffentlichkeit gleichzeitig das grosse Verantwortungs- und Bewusstseinsblabla abgesondert wird.

    Raaaaah!

    -
  4. Mike am 14. September 2009 at 09:39:

    Lebt man in „unserer“ Welt der Koch- und Foodblogs, wird einem bei dem Speiseplan schon beim Lesen schlecht. Leider ist das da oben die Wirklichkeit, so wird in vielen Familien gegessen. Hauptsache irgendwas ist auf dem Tisch, Geschmack und Genuss sind zweit-, nein drittrangig, Nährwert ist egal. Man isst, weil man muss. Man tankt quasi Energie, woraus auch immer. Ich frage mich, woraus wohl die Bratensauce zu den Wurstwürfeln bestanden hat? Will es aber nicht wirklich wissen. Hauptbestandteile obiger Ernährung: Glutamat und Zucker. Aber immerhin, drei mal Gurkensalat, von dem ich bitte nicht das Rezept haben möchte.

    -
  5. adrian am 14. September 2009 at 10:16:

    Dass man beispielsweise eine Bratensauce in einem Lager für eine grosse Anzahl Leute halt nicht selbst macht, sondern anrührt, versteh ich eigentlich. Aber dass man so ausgewogen essen auftischt und weder frisches Gemüse noch Früchte anbietet, ist mir unerklärlich.
    Die kinder sind nicht wegen dem Essen da. Sie wollen etwas erleben, sich bewegen, „seich“ machen, etc. Da braucht es kein Gourmet-Menu-Plan und auch keine feinen Kräuter. Was es braucht ist einfache, ausgewogene, gesunde und nahrhafte Küche, ein anständiges Frühstück/Znüni, …

    -
  6. Boris Zatko am 14. September 2009 at 10:16:

    Und schon haben wir das Thema für dein nächstes Buch, lieber Claudio. Immerhin!

    Aber ich hasse diese Faule-Ausrede-Kultur immer mehr. Es geht doch nur darum, dass die Verantwortlichen nicht zu viel Verantwortung übernehmen müssen, um mehr Zeit zu haben für … ja, für was? Wahrscheinlich für nix! Darauf ein Magenbitter.

    Viele liebe Grüße

    Boris

    -
  7. thunfischdurchbrater am 14. September 2009 at 10:25:

    So erging es meinen Kids im Fußballcamp auch immer – bis wir dann die Sache selbst in die Hand namen. Mitgefahren und für 30 wildgewordene Fußballer gekocht, und zwar vom Feinsten. Die Kosten sind zwar explodiert, durch Verkauf der Speisen an Elternbesuche haben wir dann aber noch Kohle für die Mannschaftskasse gutgemacht…

    -
  8. anette am 14. September 2009 at 11:05:

    super food-designer dein sohn…!
    selbst auf berghütten gibts heute schon scheibletten-käse ( im allgäu) und fertig-thunfisch-reissalat!!! auf 2500m höhe ….( jüngst im vanoise erlebt….) dazu gabs allerdings einen holzlöffel im plastik-picknick-packerl….

    -
  9. Jürg am 14. September 2009 at 11:11:

    danke claudio. ich bin dafür das dein artikel in der regionalen presse publiziert wird, unbedingt, ganz wichtig!

    -
  10. Kirsten am 14. September 2009 at 14:33:

    Ganz ehrlich, Claudio, Du hast mein vollstes Verständnis. Ich frage mich auch immer wieder, wie es zu solchen „Menüs“ kommen kann. Gibt es dort keinen denkenden Menschen? Das erinnert mich übrigens daran, als Jamie Oliver die Schulkantinen belieferte – mit gesundem Essen. Und die englischen Mütter nichts besseres zu tun hatten, als ihre „armen“ Kinder aus Protest mit Fastfood aus diversen Fastfoodketten zu beliefern.
    Ich bin ja sogar dafür, dass es in der Schule auch das Fach „Ernährung“ gibt…

    -
  11. Mrs. Wordmountain am 14. September 2009 at 15:00:

    Ich bin schockiert!
    Jetzt mal ehrlich, so was muss doch nicht sein, oder? Ich blicke auf jahrelange „Küchenzelt-Erfahrung“ im Pfadfinder-Zeltlager zurück – und selbst dort (mit zwei Hockerkochern und einem Bräter) hatten wir einen ausgewogeneren Speiseplan als in dem Camp.
    Für die Veranstalter ist das echt ein Armutszeugnis…

    -
  12. concuore am 14. September 2009 at 18:08:

    Das macht erst mal sprachlos.
    Und dann wütend, weil das „wir haben schon alles versucht aber die Kinder essen nichts anderes“ letztendlich nur eine Ausrede ist. Natürlich geht es anders, aber natürlich ist das auch viel aufwändiger. Haben die Organisatoren wenigstens das Zeugs auch selber gegessen?
    Und das ganze dann unter dem Titel Sportcamp.

    -
  13. Claudio am 15. September 2009 at 09:59:

    Danke allen für die Zustimmung. Zustände sind das, ts! Aber es geht täglich weiter. An der Primarschule dürfen Kinder seit einiger Zeit ihr Frühstück nur noch in „Znüni“-Boxen (Kunststoff) mitbringen, um dem „Littering“ Herr zu werden. Die Bälger (nicht die Lebensmittelindustrie) produzieren zu viel Abfall, wurde konstatiert. Und dieser lag dann immer auf dem Pausenplatz. Resultat? Heute liegen einfach dutzende von Boxen auf dem Pausenplatz und in den Büschen. Aber das neueste Piesacken geht so: Wer beim Entsorgen einer Essverpackung erwischt wird (in einen Abfalleimer wohlgemerkt), dem wird das Frühstück von der Pausenaufsicht konfisziert. Die Kinder sollen gefälligst lernen, ihren Abfall zuhause zu entsorgen! Mein Sohn nimmt sein Pausenbrot übrigens seit je in einer Papiertüte mit. Bevor er in die Pause geht, schnappt er sich sein Brot und lässt das Papier im Schulranzen. Resultat? Hände und Gedanken sind nach dem Essen frei zum Spielen, das Papier landet wieder zuhause und niemand bekommt was mit. Aber das Beste: Darauf ist er ganz von selbst gekommen. (Gut, es gibt auch Kinder, die wissen gar nicht mehr, was ein Pausenbrot ist, die verzehren Dinge aus Alu- und Plastikverpackungen, als wären sie auf einer Raumstation …)

    -
  14. Andreas am 15. September 2009 at 10:52:

    Claudio, so ganz kapitulieren musst Du nicht.

    Im Raurisertal gibt es zum Beispiel die Schule am Berg (http://www.schule-am-berg.at/schulpro.htm), wo sich Kinder selbst ihr Essen erarbeiten.

    Das beginnt mit dem Heizen des Holzofens, geht weiter zur Erklärung über die Getreide, zu den Mehlen, zu den Gewürzen, BIO wird erklärt. Ein dritter Bereich ist die Milch, der Unterschied von der Packerlmilch zur Rohmilch, die Milch wird zentrifugiert, jeder Schüler macht dann selbst ein Stück Butter, und zum Schluß wird gemeinsam gebacken.

    Die Alm ist zudem ein schöner Platz zum Rasten, Brot, Milch und Käse gibt es auch zum Jausenen.

    Noch ist nicht alles verloren – aber ich habe auch gut reden, unser 11jähriges Mädchen liebt Fisch, backt gern, isst lieber Vollkorn- als Toastbrot, liebt das mediterrane Essen und kocht gerne mal „den Oliver“ nach…

    -
  15. Schreiberswein | Bildungswoche am 18. September 2009 at 12:11:

    […] im Zeichen der Bildung. Sie begann mit der Entdeckung eines lesenswerten Artikels über die Geschmacksbildung. Der ärgerliche Höhepunkt der Woche war dagegen kein Musterbeispiel in Sachen Demokratie […]

    -
  16. Anonyme Köche » Blog Archive » Kochen in einer anderen Klasse am 6. September 2010 at 01:17:

    […] das lineare Schulbudget. Auf der anderen Seite mein Anspruch, Sterneküche im Vergleich zum letzten Camp vom Sohnemann zu […]

    -
  17. annatina am 9. April 2011 at 19:40:

    ich bekomm immer einen lachanfall, wenn ich an dieses posting denke (bzw. den menüplan wohlverstanden)….yeah, gsünderbasel!! go for it!!

    -

Kommentieren

 


Handcrafted by kubus media.