Kassen-Aikido

Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass diese Zeiten endgültig vorbei wären. Jedenfalls, was mich angeht. Ich dachte, mir würde so etwas nicht mehr passieren. Auf keinen Fall. Dass ich praktisch ausgeklammert wäre. Kraft meines Fluidums, oder so, verschont bliebe.

Ich? Opfer einer asozialen Alltagsaggression? Einer kleinkarierten Karambolage? Eines schäbigen Scharmützels? Einer prolligen Provokation? Einer rentnerischen Reiberei?

Nun, die Sprache des fremden Einkaufswagens, dessen beharrlicher Schub sich an meinem Oberschenkel bemerkbar machte, liess leider wenig Spielraum zur Interpretation: Da versuchte doch tatsächlich ein Bulldozer von einem Mitmenschen, mich aus dem Kassenweg zu räumen, bevor ich überhaupt meine Einkäufe bezahlt, geschweige denn in voller Anzahl auf das Warenband gelegt hatte.

Wie ein Lufballon an einer Stecknadel platzte mein Urvertrauen in meine Unantastbarkeit und damit jegliche Contenance, die ich zu bewahren pflege.

An eine flapsige Bemerkung zur Deeskalation war nicht zu denken. Mein Esprit auf Energiesparmodus. Ich auf 200.

Doch bevor ich diesem gottverdammten Arschloch auch nur eine einzige verbale Granate entgegenschmettern konnte, kapitulierte ich. Denn ich blickte auf eine Kreatur, die sich sämtlichen Naturgesetzen zu wiedersetzen schien.

Eigentlich gehörte dieses Lebewesen, oder was davon noch übrig war, auf die Intensivstation. Angeschlossen an dutzende von Schläuchen, röchelnde Maschinen und piepsende Monitore.

Der alte Mann sah wirklich unglaublich alt aus. Ich meine alt im Sinne von fertig, nicht von gealtert. Eine grosse Erscheinung, geradezu geräumig. Sehr bleich, direkt käsig. Kalter Schweiss im Gesicht und graue, feuchte Fäden auf der Stirn. Schwer durch den offenhängenden Mund atmend, eine gelbe untere Zahnreihe bleckend. Matte Haifischaugen.

Aber das Fieseste: Er stützte sich mit beiden Armen auf Krücken ab! Zusätzlich wurde er noch durch seine zierliche Frau vorsichtig seitlich abgestützt. Ich brachte keinen Ton hervor. Eine heisskalte Welle des Mitleids übergoss sich über mir. Das war bestimmt nicht seine Absicht! dachte ich.

Auf der anderen Seite, wieso starrte der Kerl mich weiterhin so fordernd an? Nein! Hör auf! Sag nichts! hörte ich mich sagen. Du hast dich nicht unter Kontrolle. Du wirst grausam ausfällig. Das Ganze gibt eine ganz wüste Szene. Und die endet dann in einer grellen Schlagzeile auf der Titelseite eines Boulevardblatts: «RABIATER FAMILIENVATER BRÜLLT OPA TOT!»

Geärgert habe ich mich trotzdem. Über die fehlende Coolness. Meine und seine.

Aber die beste Story erzählt mir mein Schwager, als ich ihm die Geschichte auftische. Er ist gut trainiert – geistig, nicht unbedigt körperlich. Er fährt nämlich viel mit dem Zug und kauft oft am Bahnhof ein – die Königsklasse in Sachen Gedrängebewältigung und Kassenstressmeisterung.

Obwohl, an diesem ruhigen Samstag war er in einem beschaulichen Quartierladen. Das hinderte eine Oma hinter ihm freilich nicht, eine Rallye anzuzetteln.

Er wurde durch ihre Überholungsversuche innerhalb der Kassenschlange dermassen drangsaliert, dass er sich ab einem gewissen Punkt sagte, okay, ich bin Feng, mach du Shui! – Hebte seine Arme in die Luft, machte einen wirkungsvollen Schritt zur Seite und liess sie vor.

«Siebenundzwanzigneunzig!», sagte die Kassierin, als sie fertig war mit einscannen. Und schon ging das Zetermordio los: «Das ist nicht meine Ware! Das hab ich gar nicht gekauft, das sind nicht meine Sachen!».

«Ehm, gehören diese Artikel etwa Ihnen?», wollte die Kassiererin von ihm wissen. «Jaja.» «Aber was macht dann die Dame vor Ihnen?» «Das weiss ich auch nicht, aber Reisende soll man nicht aufhalten!»

Diese Aikido-Regel will ich mir einprägen! Nutze die Kraft deines Gegners.

(Illustration Patrick Widmer)


28 Kommentare zu Kassen-Aikido

  1. nata am 10. Februar 2010 at 08:28:

    Der Schwager ist der Weiseste unter uns allen. – Respekt! Dieser Schachzug sollte einen Namen bekommen. „Die Baseler Kassenlist“ oder so ähnlich. Auf alle Fälle ist es möglich, dass sich diese Szene demnächst auch einmal in Köln abspielen wird. Und dann werde ich auf den Schwager von Claudio verweisen, der dann als Held gefeiert wird.

    Meine hilflosen Versuche, mit Kassendränglern fertig zu werden, bestanden bisher in der Frage „Möchten Sie gerne für mich zahlen?“. Die meisten Leute drehen dann den Spieß um und tun so, als wären sie selbst das Opfer einer Pöbelei. Mein Mantra lautet deshalb: Drängler und Pöbel nie ansprechen, immer ignorieren!

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  2. Claus am 10. Februar 2010 at 10:59:

    Oder so: ausweichen, sofort hinter dem Drängler sich wieder einordnen und dem eigenen Einkaufswagen einen ganz leichten Vorwärts-Schubs geben, so daß er leicht die Ferse des Dränglers erwischt – das erleichtert!

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  3. Claus am 10. Februar 2010 at 11:00:

    Ach ja, Entschuldigen nicht vergessen 😉

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  4. Sebastian (foodiephilia) am 10. Februar 2010 at 11:04:

    Ein sehr schöner Vorsatz! 😉
    Ich bekomme ebenfalls Panik, so bald ich Samstags den Parkplatz des Supermarktes um die Ecke sehe.
    Noch schlimmer finde ich das Gedrängel an der Fleischtheke. Da probiert es immer(!) jemand… Die perfekte Lösung für mich habe ich allerdings auch noch nicht gefunden.

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  5. der alltägliche Wahnsinn… | foodiephilia am 10. Februar 2010 at 11:12:

    […] Kassen-Aikido […]

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  6. Schnick Schnack Schnuck am 10. Februar 2010 at 11:40:

    Herrliche Geschichte!

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  7. Petra am 10. Februar 2010 at 14:12:

    Rentner haben beim Einkaufen immer die wenigste Zeit, das ist schon mal klar. Um meine Fersen und Oberschenkel zu schonen, habe ich es mir angewöhnt, mich grundsätzlich VOR meinen Einkaufswagen zu stellen, so dass Drängler mir schon mal nicht hinterrücks in die Hacken fahren können … Aber eigentlich dachte ich ja, der Schweizer an sich wäre eher geruhsam und bedächtig – alles Vorurteile natürlich 😉

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  8. Eline am 10. Februar 2010 at 14:31:

    Erinnert mich an die von Tom Waits erzählte Geschichte von der alten Dame, die ihn im Supermarkt als Sohn adoptiert: „Hi, son“, sagt sie zu ihm, weil er sie doch sosehr an ihren verstorbenen Sohn erinnert. „Hi, mom“ erwiedert er gerührt. Bis er zur Kasse kommt und ihm die Rechnung der schon verschwundenen alten Dame präsentiert wird. Die hat gesagt, ihr Sohn bezahlt.
    Einer der vielen Gründe, Supermärkte zu meiden. Obwohl es Schubser, Nörgler und Drängler auch am Markt gibt. am Schlimmsten sind für mich die Unentschlossenen, die den Wochenspeiseplan samt Rezepten erst entwickeln, wenn sie mit den Verkäufern sprechen, die nerven mehr als die Schubser!

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  9. Ellja am 10. Februar 2010 at 14:48:

    Eigentlich hab ich nie ein Problem mit Kassendränglern, einmal linke Augenbraue hochziehen reicht meist *hihi*… mich nerven nur die, die an der kasse plötzlich drauf kommen, dass sie die Bananen nicht gewogen haben, und genau die erwische immer ich!

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  10. Boris Zatko am 10. Februar 2010 at 15:57:

    Da bekommt man direkt Lust auf rohes Fleisch!

    Viele liebe Grüße

    Boris

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  11. Johannes am 10. Februar 2010 at 17:16:

    Ein schöner Fil zum Thema Arschlöcher mit Mitleids-Attributen ist folgender: http://www.aaltra.de/

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  12. Magdi am 10. Februar 2010 at 18:19:

    Meistens sind es wirklich Senioren, die es eilig haben. Aber sie haben ja auch nicht mehr viel Zeit auf Erden! Cool bleiben ist für sich selbst doch die beste Lösung. Kommt es auf die paar Minuten im Leben an?

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  13. Kirsten am 11. Februar 2010 at 09:56:

    Kenn ich auch – an der Wurst- und Käsetheke wird auch immer gerne vorgedrängelt. Mittlerweile habe ich, glaube ich, eine gewisse Coolness erreicht und atme den Ärger einfach weg 🙂 .
    Aber sag mal, Claudio, was ist ein Quartierladen? Hab ich noch nie gehört. Ist das ein Supermarkt? Oder woher kommt das Wort „Quartier“?

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  14. Mike am 11. Februar 2010 at 10:25:

    Roy Miro (aus Koontz’ „Dunkle Flüsse des Herzens“) hätte sie voller echtem! Mitgefühl erschossen, damit sie sich in der Welt nicht mehr so quälen müssen, in ihrem minderwertigen Dasein.
    Leider prallen Ironie oder Sarkasmus an solchen einfach strukturierten Menschen ab. Ein „Sie müssen sicher zum Bus/zur Dialyse!“ wird nicht kommentiert, weil nicht verstanden.
    Einfach beleidigen, aufs Fieseste! Schließlich ist man krank. Tourett Syndrom!

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  15. trific am 11. Februar 2010 at 11:14:

    Einer unhöflichen älteren Dame, die mich ständig anrempelte und schnaubte wie lange alles dauern würde, und sich schon an einigen anderen ehemals in der Schlange vor ihr Stehenden vorbei genervt hatte, ließ ich in einer Schlange bei der Post mit diesem Satz vor:

    „Gehen Sie nur vor gute Frau. Es könnt ja für Sie jederzeit zu Ende sein, da muss die Post raus, das verstehe ich.“ Danach war sie still.

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  16. peppinella am 11. Februar 2010 at 12:08:

    bewundernswert würdevoll überstanden. wenn ich da an mich denke, treibt es mir die schamesröte ins gesicht. der herr peppinello sagt immer, dass ich, wäre ich ein mann, schon hunderte von strafanzeigen am hals hätte. ich kann mich bei solchen dingen nicht beherrschen. der supermarkt ist allerdings nur die spitze des eisberges…du solltest mich mal im straßenverkehr im auto erleben. oder wenn jemand meine kinder von der seite anmacht. oder wenn …..ich könnte das unendlich ausführen. mein aggressionspotential ist in ganz banalen querelen des alltages oft übermenschlich.

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  17. peppinella am 11. Februar 2010 at 12:08:

    öhm..ich hab mich ein paar mal vertippt, oder?:-)

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  18. Claudio am 11. Februar 2010 at 13:23:

    Oh, das wird mein Schwager gerne lesen, nata! Genau, Ferse oder Achillessehne ist gut, Claus. Könntest das Personal an der Fleischtheke lautstark darauf aufmerksam machen, dass da jemand gaaanz dringend eine grosse Bestellung aufgeben möchte, Sebastian. Vor dem Wagen stand ich auch schon, Petra, da legte mein Nachfolger dann schon seine Artikel aufs Warenband, bevor ich mit meinen fertig war. Das Fiese, Eline, war ja, dass ausser uns beiden praktisch niemand im Laden war, es war eigentlich alles extrem entspannt und unaufgeregt. Augenbraue hochziehen, so wie Mister Spock, Ellja? Auf jeden Fall blutiges, Boris. Sieht verlockend aus, Johannes, danke. Wenn sich die Minuten summieren, muss man schon was dagegen tun, Magdi. Schön beobachtet, Kirsten, Quartier (von franz. quart) bedeutet in der Schweiz Wohnviertel, ein Quartierladen ist ein kleiner Supermarkt im Wohnviertel! Tourette gefällt mir auch sehr gut, Mike! Tausend mal gedacht, tausend mal ist nix passiert, trific. Ja, gut, peppinella, aber bei dir ist das ja schon so etwas wie eine Kunstform. (Ich mach die Vertipper weg, nicht dass du noch aggressiver wirst.)

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  19. donpedro am 12. Februar 2010 at 10:14:

    migicoopetc. sollten endlich mal in erwaegung ziehen, eine spezielle kasse zu eroeffnen fuer alle mit abgelaufenen, ungedeckten und sonstwie beschaedigten kreditkarten und plastikgeld. denn erstaunlicherweise habe immer ich diese menschen genau vor mir. und wenn ich sie mir dann bei ihren erklaerungsversuchen («gestern ging sie noch») ansehe, ihnen zuhöre, dann muss ich meist eingestehen, dass ich durch eine bessere wahl der wartereihe viel ungemach haette verhindern koennen.

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  20. juta muggli am 12. Februar 2010 at 10:27:

    Komisch, daß grad die älteren Damen immer so drängeln müssen.
    Aber ich sag dann immer : gehen sie ruhig vor, sie haben ja nicht mehr soviel Zeit.
    Gruß Juta

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  21. Doctor Speed am 12. Februar 2010 at 14:17:

    Wunderbar! Kennt jemand die Nackenatmer? Es ist unendlich viel Platz, nichts ist los und keiner drängt zur Eile. Dennoch stehen sie mir so auf den Hacken, dass ich ihren Atem im Nacken spüren kann. Ich kriege jedes Mal Stresspickel! Neulich bin ich mal wieder deutlich geworden und hab ein grauenhaft nach Schweiß stickendes Étwas pöbelnd aus meiner Aura verbannt. Nackenatmer lassen jede gute Erziehung vergessen.

    Entspannte Grüße
    Doctor Speed

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  22. fressack am 12. Februar 2010 at 16:15:

    Ich habe immer die vor mir: „Moment, ich hab’s passend“

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  23. Christian am 12. Februar 2010 at 20:25:

    Eine nur allzugut bekannte Alltagssituation, wie sie sich wohl täglich, stündlich, minütlich, wohl besser sekündlich, sicherlich gleichzeitig an zigtausend,zighunderttausend, wohl Millionen Supermarktkassen in einem einzigen Moment wiederholen dürfte. Schreck lass nach.

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  24. Frenk am 12. Februar 2010 at 21:46:

    Murphys Gesetz (ich glaube § 17bis) besagt, dass man sich eh immer in die Kassenschlange einreiht, die am langsamsten abgebaut wird. Das ist selbst dann so, wenn man noch schnell an die leere Kasse wechselt. Dann kommt etwa 100 Millisekunden bevor die Ware aufs Band kommt der dicke Balken mit der Aufschrift „Kasse geschlossen“ begleitet von einem Sorry-Achselzucken der Kassiererin.

    Neulich habe ich aber eine neue Masche entdeckt. Ganz fies. Echt jetzt, bei Migros. Samstag, 11.30h. Fünfzehn Leute pro Kasse. Stress pur. Schweissperlen allenthalben. Und dann kommt’s: der Rentner sagt deutlich hörbar: „AUF DEM PLAKAT BEIM GEMÜSE STAND ABER AKTION!!!“ Die eingeschüchterte Elsässerin steht auf und holt tatsächlich den Chef. Nach einer gefühlten Ewigkeit, erscheint dieser mit säuerlichem Lächeln und säuselt: „Der Herr hat Recht. Haben sie denn das Blatt mit den Aktionen heute morgen nicht gesehen?“

    Ich schwankte zwischen Mitleid mit der Frau und Killerinstinkt, dann zählte ich innerlich auf Zehn und dachte: „Thank god it’s weekend…“

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  25. creezy am 14. Februar 2010 at 21:22:

    Naja, wenn der ordentlich altersweitsichtig ist, dann stehst Du noch sehr weit vor ihm obwohl Du schon ganz nahe bist … mal daran gedacht? 😉

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  26. donpedro am 15. Februar 2010 at 12:55:

    gibt es eigentlich eine wissenschaftliche erklaerung dafuer, weshalb hausfrauen samt ihren vier quengeligen goofen sowie rentner/innen plus alles hartz-IV-gesocks (in der schweiz: typaehnlich) jeweils erst nach 17 uhr einkaufen gehen koennen?

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  27. Mike am 15. Februar 2010 at 18:39:

    @donpedro: Ich nehme mal an, dass dann die Proll-Talkshows und Telenovelas vorbei sind. Wissenschaftlich ist das zwar nicht untersucht, wäre doch aber mal ein Ansatz.

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  28. Claudio am 15. Februar 2010 at 23:30:

    Danke für eure Miniaturen: Geteiltes Leid ist halbes Leid!

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